Krieg beginnt in den Köpfen: Jonas Tögels „Kognitive Kriegsführung“

Manipulation Jonas Tögel analysiert, mit welchen Techniken Menschen von der Notwendigkeit eines Krieges überzeugt werden
Ausgabe 42/2023
Kognitive Meisterleistung: Wie bringen wir Menschen dazu, etwas gut zu finden, dass sie eigentlich ablehnen?
Kognitive Meisterleistung: Wie bringen wir Menschen dazu, etwas gut zu finden, dass sie eigentlich ablehnen?

Foto: Marcelo Hernandez/Getty Images

It’s the psychology, stupid!“ – dieser Schluss kann nach der Lektüre dieses Buches durchaus berechtigt gezogen werden. Denn in Kognitive Kriegsführung zeigt der promovierte Amerikanist und Propagandaforscher Jonas Tögel das mannigfaltige, nicht-physische Waffenarsenal von Staaten und Militärbündnissen auf. Der Begriff der kognitiven Kriegsführung (kognitiv: das Wahrnehmen, Denken, Erkennen betreffend) existiert erst seit wenigen Jahren und geht auf Forschende aus dem Umfeld des Militärbündnisses NATO zurück. In einem Dossier von Wissenschaftlern eines NATO-nahen Thinktanks wird sie definiert als eine Sammlung an Möglichkeiten zur „Manipulation der Kognitionsmechanismen eines Feindes oder seiner Bürger, mit dem Ziel, ihn zu schwächen, zu durchdringen, zu beeinflussen oder sogar zu unterwerfen und zu zerstören“. Ausgangspunkt der Analyse ist die Frage: „Warum ist es bis heute möglich, Kriege zu führen, obwohl sie unmoralisch, grausam und für die Mehrheit der Bevölkerung zum Nachteil sind und gegen das Völkerrecht verstoßen?“

Die Antwort: (auch) weil die Menschen manipuliert werden. Tögel selbst unterteilt in vier Bereiche: Kriegspropaganda, digitale Manipulation, kulturelle Manipulation, Zukunftstechnologien und Neurowissenschaften, die „als Programm zur Sammlung und Anwendung einer Vielzahl von Soft-Power-Techniken die gezielte und unmerkliche Manipulation der Gedanken und Gefühle der Menschen zum Ziel“ hätten. Die Sphäre „Mensch“ sei politisch inzwischen so bedeutend, dass für die NATO die bisher definierten fünf Kriegsschauplätze – Wasser, Luft, Boden, Cyberspace und Weltraum – nicht mehr ausreichend seien. Seit 2020 wird daher an der Etablierung eines sechsten Kriegsschauplatzes gearbeitet, der „Human“ oder auch „Cognitive Domain“, dem „Menschen als Einsatzgebiet“. In diesem Rahmen wurde 2021 ein NATO-Innovationswettbewerb zur Entwicklung von Strategien der kognitiven Kriegsführung ausgeschrieben, den das US-Unternehmen Veriphix gewann. Es hatte eine Plattform entwickelt, die das Nutzerverhalten im Internet vorhersagt und Änderungen in politischen Überzeugungen erkennt.

Jeder Mensch eine Waffe

Im Verlauf der Lektüre wird klar: Die Instrumente der Manipulation sind nicht nur auf den äußeren Feind gerichtet, sondern auch auf die eigenen Bevölkerungen. Virulent und umstritten ist zuletzt der Kontext des Ukraine-Krieges. Denn die militärische Unterstützung der Ukraine durch Staaten des Westens hängt davon ab, wie weit die Bevölkerungen bereit sind, mit ihren Regierungen mitzugehen. Die Psychologie – jene der am Krieg leidenden UkrainerInnen, aber auch der Menschen der sie unterstützenden Staaten – kann im Krieg schließlich „den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage“ ausmachen, so der im Buch zitierte Militärpsychologe Michael Matthews. Laut François du Cluzel, französischer Ex-Oberstleutnant und nun Manager eines NATO-Innovationshubs, sei es daher Ziel, „jeden Menschen zu einer Waffe zu machen“. Die Manipulationen dürften dabei künftig deutlich über die Verwendung psychischer Instrumente hinausgehen und „immer stärker technologiegestützt ablaufen“, so Tögel – und die Neurowissenschaften eine entscheidende Rolle dabei spielen.

Das Buch ist äußerst lesenswert, der Autor arbeitet quellenbasiert-analytisch, der Anhang, an dem Interessierte ansetzen können, umfasst rund 40 Seiten. Tögel geht neben der NATO auch auf Forschungen in Russland und China ein, „wegen der Sprachbarriere“ aber eher randständig. Trotz der beängstigenden Entwicklungen und der Tatsache, dass nach dem Willen von NATO-Strategen künftig „keine Grenze mehr zwischen Krieg und Frieden“ existieren soll, schließt der Autor nicht im apokalyptischen Ton. Er weist auf Möglichkeiten hin, die Einflüsse kognitiver Kriegsführung zu neutralisieren. Denn die technologischen Entwicklungen, die der Manipulation Vorschub leisten, bergen teils auch Möglichkeiten ihrer Abwehr. Das beste Gegenmittel sei es, Gleich- oder Ähnlich-Gesinnte zu gewinnen. Die jüngsten Entwicklungen in der Forschung, schreibt du Cluzel, „haben eine in der Geschichte der Menschheit noch nie da gewesene Situation geschaffen, wo Individuen oder kleine Gruppen den Erfolg militärischer Operationen gefährden können“. Es klingt wie eine Warnung und lässt doch hoffen.

Kognitive Kriegsführung Jonas Tögel Westend 2023, 256 S., 24 €

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