Ein Tabuthema: Kriminalität und Armut

Kolumne Warum rutschen Menschen in Armut in die Kriminalität? Unsere Kolumnistin kennt etliche Beispiele und weiß: Nur die Politik kann das Problem lösen
Ein kleines Tütchen illegales Fentanyl
Ein kleines Tütchen illegales Fentanyl

Foto: Darwin Brandis/iStock

Im August letzten Jahres habe ich an einem Treffen armutserfahrener Menschen teilgenommen. Anwesend war auch ein ruhiger, zurückhaltender Mann Mitte dreißig, der erzählte, dass er erst vor ein paar Monaten aus dem Gefängnis entlassen worden wäre und im Betreuten Wohnen untergekommen sei. Er war durch die Armut in die Kriminalität gerutscht. Drogenkonsum kann ein Grund sein, Gesetze zu brechen. Erst der Eigenkonsum, dann vielleicht das Dealen, weil das Geld nicht reicht und je nach Persönlichkeit kann dies im Gefängnis enden.

Es ist ein Tabuthema: Kriminalität im Zusammenhang mit Armut. Das wohl bekannteste Vergehen ist der Sozialbetrug. Wahrscheinlich denken Sie daran, wenn Kriminalität im Zusammenhang mir Armut genannt wird. Laut den Daten des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2022 beträgt der gesamtwirtschaftliche Schaden durch Bürgergeld-Betrug etwa 60 Millionen. Der gesamtwirtschaftliche Schaden durch Steuerhinterziehung von nicht-armutsbetroffenen Menschen beträgt dagegen 100 Milliarden Euro.

Armut ist nicht nur eine finanzielle Ausnahmesituation, sondern auch eine mentale. Dass Armut krank macht, wissen wir. Nicht nur psychische Krankheiten verschlechtern sich, wenn man arm ist, sondern auch körperliche. Jeder Armutsbetroffene kennt diese Nächte, in denen man wach liegt und darüber nachdenkt, wie man was und wann finanzieren kann. Existenzängste sind tägliche Begleiter. Was ist, wenn das Geld wirklich nicht mehr reicht? Was ist, wenn ich keine Hilfe bekomme von Freunden, Familie oder Ämtern, weil meine Stromrechnung zu hoch ist? Was, wenn ich kein Darlehen beantragen kann?

Diese Verzweiflung kann einen Menschen zu Taten zwingen, die man im Nachhinein bereut. Niemand möchte gegen Gesetze verstoßen, erst recht nicht, wenn diese Person von staatlichen Transferleistungen abhängig ist. Daher wird alles versucht, legal die Situation zu verbessern: zum Beispiel auf Flohmärkten noch den Besitz zu verkaufen oder den Schmuck, soweit vorhanden. Oder man leiht sich Geld. Die meisten Menschen in finanziellen Notsituationen gehen Pfandflaschen sammeln. Denn sich auf die Straße zu setzen und öffentlich zu betteln ist für die meisten Menschen das Entwürdigendste, was sie sich vorstellen können. Wer auf der Straße bettelt, ist verzweifelt.

Es gibt Armutsprostitution, ohne Zweifel

Andere Methoden, die Armut erträglicher zu machen, können strafbar sein: Dinge vom Sperrmüll mitnehmen, Container und Mülltonnen nach Verwertbarem durchsuchen. Ich kannte jemanden, der gelbe Säcke geklaut hat, wenn sich darin Pfandflaschen befanden. Und auch jemanden, der die Altkleidersäcke mitnahm, in er Hoffnung etwas Verwertbares zu finden. Als ich noch in Schleswig wohnte, nah am Stadtfeld, einem breiten Platz, auf dem Wochenmärkte und Jahrmärkte stattfinden, gab es dort auch ein paar Container für Papier und Glasbehälter. Wenn ich vor dem Sonnenaufgang nach Hause kam, durchsuchten Menschen dort im Schutz der Dunkelheit den Müll. Ich habe mich damals sehr erschrocken. Ich hätte nicht gedacht, dass die Armut in Deutschland so schlimm ist.

Auf X, vormals Twitter, las ich letztens einen Post von einer Frau, die schrieb: Ich habe mich für meine Kinder prostituiert, damit ich ihnen etwa zu Weihnachten kaufen kann und wir genug zu essen haben. Mit dem Hashtag #Realität.

Dass es Armutsprostitution gibt, daran hege ich keinen Zweifel – nur würde kaum eine Frau dies öffentlich machen wollen. Dank des Internets gibt es durch bestimmte Internetseiten die Möglichkeit, mit Nacktbildern oder durch Chatten Geld zu verdienen. Mich graust es zu wissen, dass es verzweifelte Menschen gibt, die dies tun müssen, um aus ihrer finanziellen Notlage herauszukommen oder diese abzumildern. Sexarbeit haftet immer noch ein anrüchiger Makel an. Natürlich wissen diese Menschen, dass diese Zuverdienste, wenn sie nicht beim Amt angegeben werden, Sozialbetrug sind. Aber es gibt auch die ekelhaften Menschen, die armutsbetroffenen Frauen Hilfe in Form von Lebensmittelgutscheinen anbieten, aber dafür verlangen, dass diese sich mit ihnen einlassen. Hilfeleistung gegen sexuelle Gefälligkeiten ist das Ekelhafteste, von dem ich auf Twitter/X gelesen habe.

Es ist wichtig, dass unsere Regierenden endlich das Armutsproblem in Deutschland angehen, gerade jetzt, wo der Bürgergeldempfänger zum Feindbild hochstilisiert wird. Hass und Hetze bringen uns in Deutschland nicht weiter. Es ist notwendig, zur Menschlichkeit zurückzukehren und zur Vernunft. Wenn aber die Schere zwischen Arm und Reich immer größer wird, besteht eine Gefahr für die Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die Ungleichheit kann Radikalisierung fördern. Und wenn sich Bürger von der Gesellschaft oder demokratischen Grundsätzen abwenden, dann steigt auch die Bereitschaft zum Gesetzesbruch.

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

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Geschrieben von

Janina Lütt

Kolumnistin

Janina Lütt ist armutsbetroffen, sie bestreitet ihre Leben für sich und ihre Tochter mit Erwerbsminderungsrente auf Bürgergeld-Niveau. In ihrer regelmäßigen Kolumne auf freitag.de berichtet sie über den Alltag mit zu wenig Geld, über die Sozialpolitik aus der Perspektive von unten, über den Umgang mit ihrer Depression und über das Empowerment durch das Netzwerk #ichbinarmutsbetroffen: @armutsbetroffen

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