Setzt dem Wahnsinn ein Ende!

Guantánamo Barack Obamas zweite Legislaturperiode wird 2016 enden. Bis dahin wird sich entscheiden, ob das Haftlager Guantánamo geschlossen wird

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Setzt dem Wahnsinn ein Ende!

Foto: Johan Ordonez/AFP/Getty Images

Vor gut einer Woche kam es zu der Freilassung eines Insassen der Sonderhaftanstalt Guantánamo, die aufhorchen ließ: Am 17. September ließ das US-Verteidigungsministerium Younis Chekkouri nach 13 Jahren Haft aus Guantánamo frei, wobei „frei“ das falsche Wort ist, denn Chekkouri wurde nach Marokko überführt und dort unmittelbar in Gewahrsam genommen. Das Absurde am Fall: Chekkouri wartet seit 2002 auf eine Anklage, seine Freilassung wurde bereits 2009 bewilligt.

Wie lässt sich die Inhaftierung eines Terrorverdächtigen rechtfertigen, wenn dieser nie einen juristischen Prozess gemacht bekommen hat? Warum verzögerte sich seine Freilassung um mehr als sechs Jahre? Und weshalb hat Chekkouri keinen Anspruch auf Rechtsbeistand? Der Fall Chekkouri zeigt: Das Fehlen einer juristischen Legitimation für die Einkerkerung von Menschen stellt eine Schande für die Vereinigten Staaten und die von ihnen propagierten Werte dar.

Ein rechtliches Schlupfloch

Ersonnen wurde Guantánamo von George W. Bush, und zwar in bester „war on terror“-Rhetorik in der Panik nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. In den Folgemonaten – zeitgleich mit dem Einmarsch der US-Truppen in Afghanistan – wurde der ehemalige Marinestützpunkt auf Kuba zu einem Hochsicherheitsgefängnis umfunktioniert. Seitdem ist die Sonderhaftanstalt zu einem Ort geworden, der den Grundwerten einer Demokratie widerspricht.

Da wäre nicht nur die Verweigerung von juristischen Prozessen, sondern eine ganze Zahl an inhumanen Drangsalierungen und Erniedrigungen, die nach und nach öffentlich wurden, zum Beispiel durch Tagebucheinträge des Mauretaniers Mohamadou Ould Slahi oder Überlieferungen von Shaker Aamer. Die von Amnesty International protokollierten Menschenrechtsverstöße umfassen eine Reihe von Foltermethoden, deren Schilderungen jedem normalen Menschen den Magen umdrehen: sexueller Missbrauch und Vergewaltigungen, Waterboarding, Schlafentzug, Zwangsernährungsmethoden.

Möglich ist das alles, weil das Haftlager von vornerein als ein juristisches Schlupfloch konzipiert wurde: Weil Ausländer, die in Kuba gefangen gehalten werden, aus dem Zuständigkeitsbereich von US-Gerichten fallen, sind die Vergehen rechtmäßig nicht anzufechten. Und weil durch das Labeling der Terrorverdächtigen als „unlawful combatants“ – also „ungesetzmäßiger Kombattanten“ – völkerrechtliche Konventionen entfallen, gelten weder Bestimmungen des Kriegsvölkerrechts, noch die des Genfer Abkommens. Das Lager Guantánamo ist somit de jure wie de facto ein rechtsfreier Raum – und seine Insassen per definitionem keine Kriegsgefangene.

Der Status Quo

Stand jetzt sind noch 115 Gefangene in Guantánamo inhaftiert. 53 von ihnen wurde bereits eine Freilassung genehmigt, zehn sollen vor Militärtribunalen verurteilt werden und 52 von ihnen fallen unter die Kategorie der „forever prisoner“: Sie wurden zwar nie einer Straftat angeklagt, werden aber verdächtigt, „suspected bombmakers, terrorist trainers, recruiters, facilitators, and potential suicide bombers“ zu sein.

Das National Security Team, eine Vereinigung von sechs staatlichen Stellen (unter anderem dem Pentagon, dem Außenministerium und nationalen Geheimdiensten), wies in einem Bericht bereits darauf hin, dass die 53 Männer, denen eine Freilassung bewilligt wurde, auch freigelassen werden sollten. 80% von ihnen kommen aus dem Jemen, einem Land, das selbst von Krieg und Flüchtlingen heimgesucht wird. Für den Großteil der inhaftierten Jemeniten sind bereits aufnahmewillige Länder gefunden worden – die Männer aber sind nach wie vor gefangen.

Zudem stellt sich die Frage, zu welchem Preis man die Sonderhaftanstalt weiterbetreiben möchte. Guantánamo hat den US-amerikanischen Steuerzahlen seit seiner Öffnung 5,2 Milliarden US-Dollar gekostet, das berichtet die New York Times. In manchen Jahren verschlang das Gefängnis mehr als 500 Millionen US-Dollar jährlich. Durchschnittlich kostet jeder Insasse 2,8 Millionen US-Dollar pro Jahr. Das Gefängnis ist ein teures Vergnügen.

Fehlende Durchsetzungskraft

Barack Obama, der die Schließung des Gefangenenlagers bereits vor seiner ersten Amtszeit zu einem seiner Hauptwahlversprechen machte, sieht sich indes machtlos: Zwar bekräftigte er wiederholte Male seine Absichten, mit dem Gefängnis abzuschließen („it's contrary to who we are“), seine Versuche eine Schließung herbeizuführen, wurden jedoch ein ums andere Male vom Kongress vereitelt. Sowohl im Senat (54 Republikaner, 44 Demokraten) als auch im Repräsentantenhaus (246 Republikaner, 188 Demokraten) besitzen die Republikaner eine Stimmmehrheit. Der Großteil der Mitglieder der Grand Old Party sträubt sich gegen eine Schließung des Gefängnisses, weil er sich von den Foltermethoden erhofft, nützliche Informationen über führende Köpfe von terroristischen Organisationen zu gewinnen.

Indes werden das Weiße Haus und das Pentagon dem Kongress schon bald einen detaillierten Plan vorlegen, wie man das Gefängnis noch im nächsten Jahr schließen könne. Das Strategiepapier sieht dabei die Freilassung derer, denen das Verlassen der Haftanstalt genehmigt wurde, und ihre Verteilung auf verschiedene Länder vor. Außerdem wurden Verfahren vor Militärtribunalen sowie die Überführung der „forever prisoners“ in US-Gefängnisse vorgeschlagen.

Grundsätzlich sollte hinterfragt werden, ob das US-Verteidigungsministerium genügend Handlungsfähigkeit besitzt, um die Anzahl der Inhaftierten vor dem Ende von Obamas zweiter Amtszeit so zu reduzieren, dass Guantánamo ein für alle Mal Geschichte wird. Denn eines ist klar: So lange Menschen in Guantánamo gefangen gehalten werden, wird die Haftanstalt nicht außer Kraft gesetzt werden können. Erst die Freilassung beziehungsweise Überführung der restlichen 115 Gefangenen würde eine Schließung überhaupt möglich machen. Ashton Carter, der Verteidigungsminister, der jede Freilassung und Überführung persönlich bewilligen muss, kann derweil keine sonderlich beeindruckende Bilanz aufweisen: Seit dem Beginn seiner Tätigkeit als secretary of defense im Februar 2015 konnte er das Kontingent des Gefängnisses um sieben Personen reduzieren. Seinem Vorgänger Chuck Hagel gelang es in zwei Jahren, die Zahl der Gefangenen um immerhin 44 Personen zu vermindern.

Der Blick aufs Große und Ganze

Die Debatte um die Haftanstalt Guantánamo sollte dabei mit Blick auf das Große und Ganze geführt werden, statt sich auf – zweifellos tragische – Einzelschicksale zu fokussieren.

Zumal Fälle wie der Chekkouris in Vergangenheit keine Seltenheit waren. 2006 wurde Murat Kurnaz aus Guantánamo freigelassen, sein Fall stieß auf ein breites Interesse deutscher Medien. Kurnaz – in Deutschland geboren, türkischer Staatsbürger – wurde 2002 bei einer Pilgerreise in Pakistan festgenommen, anschließend für ein Kopfgeld an US-Streitkräfte in Afghanistan verkauft, wo er als „ungesetzmäßiger Kombattant“ eingestuft wurde. Fünf Jahre verbrachte Kurnaz im Haftlager Guantánamo. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland schrieb er das Buch „Fünf Jahre meines Lebens“ und erzählte von dem ihm Widerfahrenen.

Solche Geschichten schockieren. Sie berühren den Menschen, weil sie uns damit konfrontieren, wie klein und nichtig die eigenen Probleme im Vergleich zu dem Schicksal eines Murat Kurnaz sind. Unser Wohlergehen wird dabei einer heftigen Belastungsprobe unterstellt: Es scheint schier unglaublich, dass jemandem von uns – einem aus Deutschland! – solche Gräueltaten angetan werden können. Es kommt zu der Auseinandersetzung des eigenen Bewusstseins mit der Frage, wie man sich fühlen würde, wenn man selbst fünf Jahre unrechtmäßig inhaftiert und gefoltert worden wäre. In Folge dessen solidarisiert man sich mit Opfern, die keine Opfer hätten sein müssen, wenn ihnen die Möglichkeit eingeräumt worden wäre, sich vor Gericht zu verteidigen.

In größerem Rahmen sollte man sich aber auch die Frage stellen: Was für ein Weltbild liegt der juristisch unbegründeten Inhaftierung und Folterung von Verdächtigen zu Grunde? Ist das ein Rechtsverständnis das wir, die westliche Welt, haben wollen? Bis das Gegenteil bewiesen wurde, muss der Grundsatz in dubio pro reo gelten – auch bei Terrorverdächtigen.

Es ist natürlich nicht zutreffend, dass alle Insassen Guantánamos Unschuldslämmer sind, denen willkürlich Böses angetan wird. Natürlich folgt auf jeden Murat Kurnaz mindestens ein Terrorverdächtiger, dem wohlmöglich wirklich wertvolle Informationen entlockt werden können. In jedem Fall verdienen aber auch diese Menschen, dass man eine Inhaftierung gegen sie juristisch legitimiert.

Um es kurz zu machen: Es gibt keinen ersichtlichen Grund, an Guantánamo festzuhalten. Das Gefangenenlager entwürdigt jeden Insassen, indem es ihn unter Generalverdacht stellt, ohne dass er eine Chance hätte, sich zu rechtfertigen. Die Behandlung der dort Inhaftieren ist menschenunwürdig. Das Gefangenenlager widerspricht dem Selbstverständnis einer liberalen Demokratie und allen Prinzipien, auf denen unsere westliche Kultur fußt: christlichen Werten, der Idee des Humanismus und der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Vor allem aber auch: der Menschenwürde, die ein Verfassungsprinzip der US-Konstitution ist.

Viel Zeit bleibt Barack Obama nicht mehr. Wenn am 8. November 2016 die US-Präsidentschaftswahlen abgehalten werden, wird Guantánamo fast 15 Jahre lang existieren. Es bleibt zu hoffen, dass Obama in den restlichen 13 Monaten seiner Legislatur sein Wahlversprechen umsetzt – und dem Wahnsinn ein Ende setzt. Mit Jeb Bush und Donald Trump stehen zwei aussichtsreiche Präsidentschaftskandidaten der Republikaner in den Startlöchern, die am Haftlager festhalten. Sollte einer der beiden zum 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten werden, würde eine Schließung Guantánamos in weite Ferne geraten. Und das wäre fatal.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

jkaron

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