Gibt es einen nachhaltigen Linkspopulismus?

In der Propagandafalle Die politische Linke scheint sich mit dem Populismus als Mittel der Massenbeeinflussung schwerer zu tun als die Rechte.

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Über Populismus wird im "Freitag", redaktionell und in der FC, viel geschrieben. Nachstehend eine oberflächliche Auswahl von Artikeln und Beiträgen über das Für und Wider des Populismus.

Dafür: Jakob Austein am »05.11.15. Er bejaht einen - linken - Populismus, versucht dabei, diesen nicht ganz undefiniert im Raum stehen zu lassen.

Dagegen: David Antonio ZTR, »29.08.15. Er lehnt Populismus - jedenfalls von rechts - ab.

Vorsichtig dafür: Ernesto Laclau, »20.03.15. Wiedergegeben beim "Freitag" von Dan Hancox/"Guardian". Auch Laclaus Populismusbegriff wird im Artikel relativ ausführlich dargestellt.

Ablehnend: Helkonie, »17.11.15. Sie lehnt Populismus - jedenfalls von rechts - ab.

Ablehnend: Anne Straube, »13.11.15. Sie lehnt Populismus ab und weist darauf hin, dass dieser vor allem rechts der politischen Mitte zu Hause sei.

Eher ablehnend: Wolfgang Michal, »05.11.15. Unter den Gründen dafür, warum es die Gegenöffentlichkeit zur Zeit schwer habe, führt er auch den Vorwurf des Populismus - als Vorwurf des Establishments gegen die Gegenöffentlichkeit - an. Dabei scheint mir, dass Michal den Populismus ebenfalls eher als Teil einer rechten politischen Werkzeugkiste ansieht, und nicht als eine linke Methode.

Meine Vermutung: Augstein möchte den Populismus als Methode nicht den Rechten (allein) überlassen. Ernesto Laclau auch nicht. Ablehnendere Stimmen halten den Populismus offenbar für eine - womöglich unveränderliche - Domäne der politischen Rechten.

Aber ob das zutrifft, hängt auch davon ab, wie man Populismus definiert, und da ergibt sich in der Wissenschaft offenbar kein einheitliches Bild.

Eine für einen Internetartikel recht umfangreiche Bestandsaufnahme durch Karin Priester, online veröffentlicht Anfang 2012, sieht im Populismus keinen Substanz-, sondern einen Relationsbegriff. Als zyklisches Phänomen passe er sich permanent neuen Bezugssystemen an und setze sich zu ihnen in eine Anti-Beziehung. Er werde als Strategie des Machterwerbs definiert, so Priester unter Bezugnahme auf eine ihrer vorangegangenen Veröffentlichungen.

Andererseits:

Auch wenn sich Populismus nur in Relation zu einem akuten Gegner bestimmen lässt, verfügt er über ein ideologisches Minimum, das auf einer vertikalen Achse von "Volk" und "Elite" beruht. Um diese Achse gruppiert sich ein Bündel nicht variabler Vorstellungen, die nicht politisch, sondern moralisch verankert sind. Der Populismusforscher Cas Mudde definiert Populismus daher als "eine Ideologie, die davon ausgeht, dass die Gesellschaft in zwei homogene, antagonistische Gruppen getrennt ist, das 'reine Volk' und die 'korrupte Elite', und die geltend macht, dass Politik ein Ausdruck der volonté générale oder des allgemeinen Volkswillens sein soll".

Es deutet sich vielleicht an, dass eine Definition des "Populismus" aus einen Guss nicht möglich ist. Selbst innerhalb von Priesters Bestandsaufnahme wird zwar einerseits vom Populismus als variables strategisches Mittel gesprochen, aber eben auch von seinem "ideologischen Minimum". Es haben sich offenbar unterschiedliche begriffliche Auffassungen zum Populismusbegriff gebildet, und für einen Laien ist es kaum möglich, zwischen ihnen eine "wissenschaftliche"Wahl zu treffen. Das lässt dann nur den Weg des Pragmatismus. Bei Augstein, im Schlussplädoyer seines Jubiläumsartikels am 5. November, für einen linken Populismus, drückt sich dieser Pragmatismus in zwei Sätzen aus, die beide mit einem wenn beginnen:

Wenn es linkspopulistisch ist, Statistiken über die Vermögensverteilung zu zeigen und offen zu sagen, welchen Anteil die obersten ein Prozent davon besitzen, dann soll der Freitag ruhig linkspopulistisch sein. Und wenn es linkspopulistisch ist, Statistiken des IWF oder der OECD zu referieren, die von der zunehmenden Ungleichheit reden, dann soll der Freitag abermals ruhig linkspopulistisch sein. [...]

Ja, wenn. Dann vielleicht.

Oder auch nicht. Zum Beispiel der Wunsch, sich das "Tool" des Populismus anzueignen, wäre zwar nachvollziehbar - gerade im Licht der von Priester erwähnten Definition des Populismus als Strategie des Machterwerbs.

Aber anders als in den Händen der politischen Rechten wird Populismus, von links her verwendet, zum zweischneidigen Schwert - nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für den Linken selbst, der diese Waffe in die Hände nimmt. Wolfgang Michal hat es im November »beschrieben und dabei auch auf die Gleichsetzung Albrecht Müllers mit Verschwörungstheoretikern und Querfrontlern hingewiesen. Die "Mitte" - die so mittig gar nicht ist, sondern nach rechts aufgeschlossener als nach links - ist sehr viel eher bereit, Rechten radikale Äußerungen der Ablehnung und des Ressentiments nachzusehen als den Linken. Und dass die Linke von Ressentiments ihrerseits nicht frei ist - stellt sie vor die Frage, welchen Sinn das Ressentiment haben kann. Der US-Kommunist Paul Saba wies 1978 auf die Versuchung hin, "dem Feind ein Gesicht zu geben" - was allerdings eine falsche Auffassung des Prinzips erkennen lasse, dem zufolge sich das Allgemeine im Besonderen [oder Konkreten] manifestiere. Mit dem Hass, der unter dem täglichen Leben im Kapitalismus wachse, und der weiter geschürt werden müsse, meinte Saba offenbar nicht handliche Sündenböcke oder Symbole als Argumentersatz. Er forderte eine Agitation, die nicht bei konkreten Fallbeispielen stehenbleibe, sondern über sie hinausweise auf das Allgemeine.1)

Theoretisch wäre ein Linkspopulismus sicher denkbar, wenn man ihn als Methode auffasst, oder als Mittel zur Gestaltung propagandistischer Beziehungen zwischen Propagandisten, ihren Auftraggebern, und den Propagandisierten.2) Praktisch aber ist die Unterscheidung zwischen Methode und dem von Priester genannten "ideologischen Minimum" schwer zu treffen. Und zwischen beidem verläuft für Linke eine Trennlinie: das ideologische Minimum des Populismus appelliert schließlich nicht an das, was beim Propagandisierten an Aufklärung vielleicht da wäre, und schon gar nicht trägt es zu weiterer Aufklärung bei. Oft handelt es sich um Vereinfachungen, die den thematisierten Sachverhalten nicht gerecht werden. Und schlimmstenfalls handelt es sich beim Populismus um Appelle an den inneren Schweinehund.

Setzt man voraus, dass Linke (und Linksliberale) die Welt verbessern wollen, bietet Populismus sich kaum an. Trotzdem will ich keinem unreflektierten "Verzicht" auf populistische Methoden das Wort reden. Der Weg wird eben nicht nur durch das Ziel bestimmt, sondern auch durch die Verhältnisse am Ausgangspunkt. Aber wenn die Verhältnisse am Ausgangspunkt zu opportunistischen und selbstkorrumpierenden Entscheidungen führen, kann man sich den Weg auch gleich sparen. Selbstkorrumpierend ist zum Beispiel die Vorstellungen, mit der politischen Rechten seien wohltätige Bündnisse möglich.

Es gibt eine gesellschaftliche Sucht nach Erzählungen, bei der sich die Frage aufdrängt, was diese Erzählungen eigentlich sollen: ob es darum geht, wirkliche Verhältnisse zu verstehen, sie zu ändern, ihnen auszuweichen, oder sie erträglich zu machen.

Ein Teil der "Querfront" sucht "realistische" Alternativen zum Status Quo: den rheinischen Kapitalismus z. B. begreifen manche ihrer Unterstützer nicht als eine ausnahmehafte Übergangsgesellschaft, zustande gekommen unter den Schocks des Krieges und des Massenmords hinter seinen Fronten, und zusätzlich motiviert durch ideologische "Wettbewerber" östlich der Elbe. Statt dessen wird das frühere Westdeutschland, vor 1990, zu einem goldenen Gestern verklärt, zu einem Utopia, das sich mit einer Rückwärtsrolle wieder erreichen ließe.

Echter Realismus hingegen wäre keineswegs zu verachten. Im besten Fall werden Machtverhältnisse ja nicht von heute auf morgen auf den Kopf gestellt - wer das will, kann sich in Syrien ansehen, wohin das führt -, sondern unter Bedingungen ausgehandelt, die zumindest nicht kriegsähnlich sind. Das erfordert aber keine Masse unter der Hypnose der Agitation, sondern ein ehrliches Bemühen um Aufklärung. Das scheint mir ein Feld zu sein, auf dem die Linke am ehesten Stärken hat, die sie ins Spiel bringen kann. Vor ihrer "eigenen" Wissenschaft sollte sie dabei keine Angst haben. Vielleicht finden sich für ihre Analysen und Erkenntnisse ja sogar - auch - boulevardeske Ausdrucksmittel. Die eigentlichen Erkenntnisse oder Denkwege aber hinter einer Boulevard-Fassade zu verstecken oder ihnen Sahnehäubchen aufzusetzen geht todsicher schief.

Manipulation - und auch die vergleichsweise sanfte Massage der Realitäten zu "greifbaren" Symbolen - funktioniert am besten, wenn auch das Ziel solcher Maßnahmen die Manipulation ist - wenn der größere Teil der Öffentlichkeit sich - bitte - gar nicht erst bemühen soll, die Wege der Politik zu verstehen, sondern sich von den Mitteln politischer public relations sonstwohin tragen lässt.

Vielleicht hat die Linke die Grenzen der Gegenöffentlichkeit - bzw. der Gegenpropaganda - in den vergangenen zwölf Monaten besonders schmerzhaft gespürt. Ob es nun Narrative von der Ausbeutung sind, die in den Handel kommen, oder Narrative von sicher wohlmeinenden Barfußhistorikern in lokalen "Geschichtswerkstätten", oder Narrative der Rechten: sie alle sind Anwendungsprodukte für Endnutzer, die damit ihrerseits vielleicht noch etwas vorhaben - bei denen aber nicht das Denken zu diesen Vorhaben gehört, sondern ein gedankenloses Fühlen. Dass es unkritische Endnutzer gibt, die sich mit Symbolen und den üblichen Verdächtigen rechter Wahl (siehe "Baron Todschild") zufriedengeben, anstatt zu fordern, dass auf solche "Vorwürfe" bitte auch konkrete Darlegungen zu folgen hätten, liegt in der Natur der Sache. Diejenigen unter ihnen, die einmal Linke waren, oder sich zur Mitte rechneten, waren vermutlich auch in der Vergangenheit nicht kritischer als heute. Sie fühlten sich in der Vergangenheit nur nicht so stark angewiesen auf Sündenböcke, wie in der Gegenwart.

Kommt eine unkritische Nostalgie hinzu, die alles verehrt, was älter ist als eine Idee von heute, gelangen erstaunlich schnell Hassartikel auf den ideologischen Grabbeltisch, von denen man gehofft hatte, dass sie nach 1945 endgültig diskreditiert seien.

Dass das Establishment viel dazu getan hat, das Urteilsvermögen "der Menschen im Lande" in einen Dornröschenschlaf zu versetzen, und damit auch Hasspredigten breite Einfallsstraßen gebaut hat, macht die Sache auch nicht besser. Im Zweifel passen Neurechte und das Establishment durchaus zusammen. Zwischen ihnen besteht viel Raum für Kompromisse zu Lasten der Menschenrechte.

Die Linke passt in solche Bündnisse nicht hinein - nicht, wenn sie ihre emanzipatorischen Ziele im Auge behalten will. Wer diese Einschätzung für eine bequeme Geduld hält, übersieht, dass durch Manipulation, Agitation und willkürlichen Verzicht auf Klarheit erreichte Veränderungen anschließend, nach ihrer erfolgreichen Herbeiführung, durch Integrationspropaganda - und durch eine "starke" staatliche Hand - konsolidiert werden müssten. Eine kluge Öffentlichkeit, die die Konsolidierung überwachen könnte, würde in einer manipulativ herbeigeführten Lage ja nicht existieren - Ersatz müsste her.

Im besten Fall sieht das dann so aus wie heute, und im schlimmeren Falle etwa so wie 1973 in Chile. Gemeinhin kommt es zu Momenten linker Überlegenheit aber ohnehin nicht: Mitte und/oder Rechte erweisen sich als mächtiger, denn ihre Rezepte überzeugen eine propagandisierte Gesellschaft schneller, als eine linke Propaganda es könnte.

Eine aufgeklärte, sich emanzipierende Gesellschaft wäre vermutlich noch lange keine linke Gesellschaft. Eine Gesellschaft, deren Angehörigen es auch "nur" gelänge, sich über ihre eigenen Interessen klarzuwerden, wäre aber gleichwohl ein großer Fortschritt. Denn noch leben wir in einem im Zweifel rechten Land, dessen Wähler, um es in Augsteins Worten zu sagen, die neoliberale Lektion gelernt haben: dass nämlich das Geld ist in der Hand der Reichen am besten aufgehoben sei.

Das aber ist nicht nur traurig, sondern auch gefährlich, denn Gesellschaften ängstlicher, feiger, friedliebender, hilfloser Herrenknechte, die sich - Gewöhnung vorausgesetzt - mit fast jedem Unrecht abfinden, stehen erfahrungsgemäß nicht am Ende ihrer Geschichte, sondern am Beginn noch größeren Elends.

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Notes

1) Wenn das Sabas Ziel war oder ist, stellt sich immer noch die Frage nach der Machbarkeit. Mao jedenfalls, auf den Saba sich bei seinem Argument vor 37 Jahren berief, scheiterte auf dem Weg vom Konkreten zum Allgemeinen: just Mao verwendete die Agitation spätestens in den 1960er Jahren als Mittel zu seinem persönlichen Machterhalt. Und was als Machtkampf in der Parteizentrale begann, setzte sich dezentral, unter den Massen, weiter fort: Agitation als "politisches" Mittel zur Befriedigung von Rachsüchten, mit Hilfe von Abrechnungen und Denunziationen. Millionenfaches, mörderisches Klein-klein.

2) Als eine Art flexibles Weltbild, in dem die Linke sich selbst als unveränderliche Pächterin der Moral und eines ebenso unveränderlichen Einvernehmens mit "dem Volk" wahrnehmen könnte, scheint mir der Populismus für die Linke ausgedient zu haben.

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