Tsai Ing-wens Wahlkampf, 2010 - 2016

Taiwanische Kontinuität Allen Umfragen zufolge wird heute erstmalig eine Frau zur Präsidentin der Republik China auf Taiwan gewählt. Das wirklich Neue aber sind ihre politischen Konzepte.

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Die frischgewählte Präsidentin Tsai Ing-wen
Die frischgewählte Präsidentin Tsai Ing-wen

Foto: Ulet Ifansasti/Getty Images

Update: Tsai Ing-wen ist gewählt.

Am 27. November 2010 verlor Tsai Ing-wen die Bürgermeisterwahlen in New Taipei City, der größten Stadt Taiwans, nördlich der eigentlichen Hauptstadt Taipei. Sie war landesweit nicht unbekannt: seit 2008 war sie außerdem Vorsitzende der größten taiwanischen Oppositionspartei, der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP). Anstelle einer klassischen Anerkennung der Niederlage stellte ihren deprimierten Zuhörern dar, was sie - Kandidatin und Unterstützer - in den zurückliegenden Monaten geleistet hätten. Auch der landesweite Aspekt der Bürgermeisterwahlen, die in allen fünf zentralverwalteten Taiwaner Großstädten stattfanden, ging in ihrer Rede nicht unter:

Wir haben einen Wahlkampf mit politischen Inhalten geführt. Wir haben die [Taiwan regierende] KMT dazu gezwungen, sich politischen Grundsätzen anzuschließen, die weitreichende Auswirkungen auf die taiwanische Gesellschaft haben werden, wie öffentliche Wohlfahrtspflege, Wohnungsbau, Stadtsanierung, alle von größter Dringlichkeit für die taiwanische Gesellschaft. Wir hoffen, das in unserem Wahlkampf gründlich ausgedrückt zu haben, und wir hoffen auch, dass die KMT, die an der Macht befindliche Partei, diese Angelegenheiten ernst nehmen und sich ihnen zuwenden wird. [...] Wir haben keinen aufgeregten [parteipolitisch geprägten] Wahlkampf geführt, sondern einen Wahlkampf politischer Ansichten, mt Visionen, mit Leidenschaft, und daran sind wir gewachsen. [...] Dies war das erste Mal, dass dem so viele Menschen kleine Beträge für den Wahlkampf eines einzelnen Kandidaten gespendet haben. Wir haben das Internet für einen Dialog mit jungen Menschen genutzt, und viele Freiwillige haben uns geholfen, einen neuen, unbelasteten Wahlkampf zu führen, den wir zuversichtlich fortsetzen werden. Wie ich sagte: wir sind nicht in die Gleise eines [parteipolitischen] Showdowns geraten, und nicht einmal unter die Schatten eines ethnischen Antagonismus geraten. Wir haben gekämpft für den Geist der Bürgerbeteiligung, um einen Konsens zu finden, dem alle zustimmen können.

Tsai ist eine eher spröde Wahlkämpferin, aber in einer Rede wie der im November 2010 durfte natürlich auch eine persönliche Note nicht fehlen:

Diese sechs Monate Wahlkampf in New Taipei haben aus mir, einer Universitätsprofessorin, einer Angehörigen der Elite, eine Politikerin nahe an den Menschen gemacht, die normal mit ihnen kommunizieren [...] und ihre Gefühle mitempfinden konnte. Ich möchte den Bürgern von New Taipei wirklich danken.

Die Kandidatin

So redet jemand, der noch viel vorhat. Tatsächlich hatte Tsai wenig Grund zur Unzufriedenheit: zwar gewann die KMT drei der fünf Bürgermeisterwahlen, aber den abgegebenen Stimmen nach lag die DPP vor der Regierungspartei.

Von Bedeutung für ihre weiterhin führende Rolle in der DPP war aber auch Tsais Funktion als Parteichefin. Zweieinhalb Jahre vor Tsais gescheiterten Kandidatur in New Taipei war die DPP nach einer verlorenen Präsidentschaftswahl am Boden gewesen, und bald nach Tsais Übernahme des Parteivorsitzes wurde der bis dahin erste und letzte taiwanische Präsident, den die DPP gestellt hatte, der Korruption angeklagt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Chen Shui-bian, der vor seinen zwei Amtszeiten an der Staatsspitze als fähig und integer gegolten hatte, war im Präsidentenamt wenig erfolgreich gewesen und galt bald nach dem Ende seiner Amtszeit als unberührbar.

Damit verglichen war die Schwarzgeldaffäre der CDU eine Kleinigkeit. Aber ebenso wie die deutsche Dauerregierungspartei 1999 brauchte im Jahr 2008 die taiwanische Daueroppositionspartei eine Trümmerfrau an der Spitze. Sie traf eine gute Wahl: anders als ihr Vorgänger Chen enttäuschte Tsai ihre Partei nicht. Dass die DPP bereits 2010 wieder als ernstzunehmende politische Kraft an mehr oder weniger landesweiten Wahlen teilnehmen konnte, war maßgeblich ihr Verdienst.

Hinzu kam allerdings - nach 2010 - auch ein rapider Verfall der Regierungsautorität, die der traditionellen Regierungspartei KMT zuvor jahrzehntelang zugute gekommen war - seit der Einführung freier Wahlen in den 1980er und 1990er Jahren. Gelang es Präsident Ma Ying-jeou - den häufig wenig verlässlichen Taiwaner Meinungsumfragen zufolge - im Frühjahr 2010 noch, eine Mehrheit seiner Mitbürger in öffentlichen Debatten vom Nutzen eines Freihandelsabkommens mit China zu überzeugen, begann das Thema bald nach seinem erfolgreichen Abschluss schlecht zu riechen. Dieses Projekt, ECFA genannt, war eins der wichtigsten Anliegen Mas gewesen, vergleichbar vielleicht dem "Universal-Healthcare"-Projekts Obamas in den USA, aber weit weniger populär.

Was Ma Ying-jeou für seine Präsidentschaft, die im Mai enden wird, als Erfolge verbuchen kann, sind die Beziehungen Taiwans zur VR China, ein mehrere Jahre anhaltendes Wirtschaftswachstum in Taiwan (zuletzt allerdings schwächelnd), und eine starke Position im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb.

Aber die Beruhigung in den "Beziehungen über die Taiwan-Straße", wie man die komplizierten Beziehungen zwischen Taipei und Beijing gerne nennt, ist zweischneidig. Zum einen erhöht das engere Verhältnis die wirtschaftliche Abhängigkeit Taiwans von China, das seinen "Anspruch" auf die "Provinz" Taiwan nie aufgegeben hat. Zum anderen gilt die positive ökonomische Entwicklung, die Ma und die KMT gerne dem ECFA zuschreiben, selbst als ein Effekt, der vor allem den Reichen Taiwans genützt habe.

Die von Tsai 2010 im Kommunalwahlkampf thematisierten Belange haben also in den letzten fünf Jahren an Bedeutung noch gewonnen.

Neue China-Doktrin, 1999

Die Versuche des früheren Präsidenten Chen Shui-bians (DPP) von 2000 bis 2008, Taiwans faktischer Eigenstaatlichkeit auch zur internationalen Anerkennung zu verhelfen, waren ein Fehlschlag. Sie scheiterten mutmaßlich vor allem an der Opposition der KMT gegen große Schritte in diese Richtung und an amerikanischem Druck, den Status Quo aufrechtzuerhalten.

Präsident Ma, der die Präsidentschaftswahlen 2008 gewann, hob den Ärger hervor, den Taiwan seinem wichtigsten Verbündeten und seiner Nachbarschaft mit Chens Politik gemacht habe: sein Land müsse ein "Friedensstifter, kein Problemverursacher" sein.

Nach zwei Jahren stand es um Taiwans Verhältnis zu Beijing und zu Washington zwar um vieles besser als 2008, aber bei den heimischen Wählern war Ma Ying-jeous politischer Kredit nahezu aufgebraucht. 2012 wählte man den Amtsinhaber zwar noch einmal, aber nur, um ihn bereits während der viermonatigen Phase zwischen Wahl und Vereidigung wieder auf Tauchstation in den Meinungsumfragen zu schicken. Dort blieb er bis heute.

Tsai ist für Beijing eine alte Bekannte, aber keine alte Freundin. In den späten 1980er Jahren begann sie, die damalige KMT-Administration » Lee Teng-huis in außenpolitischen und außenhandelspolitischen Fragen juristisch zu beraten, und 1999 war sie Ko-Autorin eines Konzepts, dem zufolge Lee Teng-hui fortan die Beziehungen Taiwans zu China als zwischenstaatliche Beziehungen definierte. Bis dahin hatte Taiwan als Republik China einen Herrschaftsanspruch auf das chinesische Festland erhoben, ebenso wie umbekehrt (und bis heute) Beijing auf Taiwan. Als DPP-Kandidat Chen Shui-bian im Mai 2000 die Präsidentschaft übernahm, wurde Tsai Vorsitzende des Rates für Festlandangelegenheiten, der heute noch bestehenden taiwanischen Regierungsagentur für Taipeis halboffizielle Beziehungen zu China.

Schon Präsident Lee Teng-hui hatte, ungeachtet seiner Zugehörigkeit zur china-nationalistischen KMT, in China als "spalterisches Element" gegolten. Für Chen Shui-bian und seine Regierungsmannschaft galt das erst recht - die DPP trat ausdrücklich für eine neue staatliche Ordnung ein, etwa unter dem Namen "Republik Taiwan" anstelle der traditionellen "Republik China". Und einen im Jahr 1992 informell erzielten "Konsenses"zwischen chinesischen und taiwanischen Vertretern, dem zufolge es "ein China", bestehend aus China und Taiwan, aber verschiedene Interpretationen des einen China gebe, haben die DPP und Tsai bis heute nicht anerkannt. Aus ihrer Sicht handelt es sich um zwei verschiedene Staaten, wenn nicht zwei verschiedene Länder.

Kontinuität und Gewöhnung

Mit Ma Ying-jeou hat Tsai gemeinsam, dass die taiwanische Öffentlichkeit viel Zeit hatte, sich an sie zu gewöhnen. Ma Ying-jeous politische Karriere begann in der Administration des Präsidenten Chiang Ching-kuo, also noch zu vordemokratischen Zeiten. Und Tsai war der interessierten Öffentlichkeit spätestens ab den frühen 1990er Jahren bekannt. Aufgrund der stark eingeschränkten außenpolitischen Bewegungsfreiheit Taiwans war es außerdem wichtig, dass sich die amerikanische und chinesische politische Klasse an sie gewöhnen konnte. Kamen im September 2011 noch Geräusche aus Washington, die sich als Ablehnung Tsais durch die Obama-Administration deuten ließen, blieben solche Botschaften im Präsidentschaftswahlkampf 2015/16 aus. Und aus Beijing kamen bereits 2011 Signale, die auf eine Bereitschaft zur Tolerierung eines unerwünschten Wahlergebnisses hindeuteten, wenn es denn nun einmal unvermeidlich sei: es sei schwer vorstellbar, dass die "Beziehungen über die Taiwanstraße" sich aufrechterhalten oder weiterentwickeln könnten, wenn Tsai den Konsens von 1992 nicht anerkenne, so ein Sprecher des "Büros für Taiwanangelegenheiten" des Zentralkomitees und des Staatsrats.

Das war immerhin keine Drohung mit dem Abbruch der Beziehung, geschweige eine Kriegsdrohung, und damit - als Statement - Tsai-"freundlicher", als man es von Beijing erwartet hätte.

Aussichten

Obwohl selbst KMT-nahe Medien um die Jahreswende 2011/12 mit einem Wahlsieg Tsais zu rechnen begannen, tauchte Präsident Ma noch einmal aus dem Meer des Misstrauens auf, in das ihn die Meinungsumfragen zwei Jahre lang gestürzt hatten - allerdings nur, um nur Wochen später wieder unterzugehen. Jonathan Sullivan, ein britischer Wahlbeobachter, erklärte vier Tage nach dem Wahltag, welche - zum Teil sehr taiwanischen - Faktoren ihn dazu veranlasst hatten, Tsais Chancen auf einen Wahlsieg zu überschätzen.

Was von den Umfragen diesmal zu halten ist, werden wir in wenigen Stunden wissen. Sehr wahrscheinlich ist, dass Tsai zur Präsidentin gewählt wird. Möglicherweise gelingt es der DPP außerdem, erstmals in der Geschichte der Republik China eine absolute Mehrheit im Parlament zu erringen. Ob das für Tsai eine gute oder schlechte Nachricht wäre, ist gar nicht so leicht zu beurteilen, wie man zunächst glauben würde.

Zum einen sind die derzeitigen Unterstützer der DPP und Tsais unterschiedlich motiviert. Es gibt einen relativ festen Unterstützerkreis, der seit Jahren auf entscheidende Wahlsiege der DPP hofft, weil sie für Taiwans Eigenstaatlichkeit internationale Anerkennung wollen, unter Umständen - trotz chinesischer Kriegsdrohung - auch eine formale Deklaration dazu. Von Tsais hauptsächlichen Gegner im Wahlkampf, dem amtierenden KMT-Chef Eric Chu, haben sie in dieser Hinsicht » nichts zu erwarten. Dass Tsai allerdings den "1992er Konsens" zwischen KMT und KP Chinas nicht anerkennt, bedeutet nicht, dass sie in der Aufwertung des diplomatischem Status Taiwans ihre Hauptaufgabe sähe.

Zum einen erkennt sie die "Republik China auf Taiwan" mittlerweile als eine Art Mitbürger an, und zum anderen erwartet ein Großteil ihrer Wähler - über den festen Unterstützerkreis hinaus - gerade nicht die taiwan-nationalistische heiße Luft, die die Präsidentschaft Chen Shui-bian gekennzeichnet hatte. Statt dessen soll sie die Wirtschaft stabilisieren und dabei für eine gerechtere Einkommensverteilung sorgen, als es die KMT, eine sprichwörtliche Big-Business-Partei, es je fertigbringen könnte. Darin liegt die eventuelle Mehrheitsfähigkeit der DPP.

Sollte es heute abend für die Präsidentschaft, aber nicht für eine parlamentarische Mehrheit reichen, wird Tsai voraussichtlich auf ein Konzept zurückkommen, für das sie schon am 7. Januar 2012, eine Woche vor dem damaligen Wahltag, Sympathien erkennen ließ. Im Westen lief das wohl am ehesten auf eine Konkordanzdemokratie hinaus, vielleicht auch auf Aspekte einer deliberativen Demokratie.

Ob die KMT dabei als Oppositionspartei mitmachen würde, ist eine spannende Frage - die Erfahrungen der Chen-Ära lassen eher eine Fundamentalopposition der KMT mit allen Mitteln erwarten. Allerdings hatte Chen Shui-bian als Präsident auch alles, was eine unsympathische Nervensäge braucht. Tsai hingegen ist heiße Luft glaubhaft fremd; für Disharmonien würde die Taiwaner Öffentlichkeit vermutlich vor allem die KMT verantwortlich machen.

Stünde Taiwan nicht im Schatten des schlechten Gewissens, das die Weltöffentlichkeit angesichts ihrer vernachlässigten Beziehungen zu dieser Inseldemokratie - zu Recht - gelegentlich plagt, könnte es schon heute als ein großes Labor der Demokratie gelten. Aber auch das Gegenteil ist wahr: wo wären Demokraten stärker genötigt, die Vorteile und Stärken ihrer politischen Lebensform unter Beweis zu stellen, als im Schatten eines großen totalitären Nachbarn?

Man darf auf Tsai gespannt sein - vorausgesetzt, sie gewinnt die heutigen Wahlen.

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