Update: Tsai Ing-wen ist gewählt.
Am 27. November 2010 verlor Tsai Ing-wen die Bürgermeisterwahlen in New Taipei City, der größten Stadt Taiwans, nördlich der eigentlichen Hauptstadt Taipei. Sie war landesweit nicht unbekannt: seit 2008 war sie außerdem Vorsitzende der größten taiwanischen Oppositionspartei, der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP). Anstelle einer klassischen Anerkennung der Niederlage stellte ihren deprimierten Zuhörern dar, was sie - Kandidatin und Unterstützer - in den zurückliegenden Monaten geleistet hätten. Auch der landesweite Aspekt der Bürgermeisterwahlen, die in allen fünf zentralverwalteten Taiwaner Großstädten stattfanden, ging in ihrer Rede nicht unter:
Wir haben einen Wahlkampf mit politischen Inhalten geführt. Wir haben die [Taiwan regierende] KMT dazu gezwungen, sich politischen Grundsätzen anzuschließen, die weitreichende Auswirkungen auf die taiwanische Gesellschaft haben werden, wie öffentliche Wohlfahrtspflege, Wohnungsbau, Stadtsanierung, alle von größter Dringlichkeit für die taiwanische Gesellschaft. Wir hoffen, das in unserem Wahlkampf gründlich ausgedrückt zu haben, und wir hoffen auch, dass die KMT, die an der Macht befindliche Partei, diese Angelegenheiten ernst nehmen und sich ihnen zuwenden wird. [...] Wir haben keinen aufgeregten [parteipolitisch geprägten] Wahlkampf geführt, sondern einen Wahlkampf politischer Ansichten, mt Visionen, mit Leidenschaft, und daran sind wir gewachsen. [...] Dies war das erste Mal, dass dem so viele Menschen kleine Beträge für den Wahlkampf eines einzelnen Kandidaten gespendet haben. Wir haben das Internet für einen Dialog mit jungen Menschen genutzt, und viele Freiwillige haben uns geholfen, einen neuen, unbelasteten Wahlkampf zu führen, den wir zuversichtlich fortsetzen werden. Wie ich sagte: wir sind nicht in die Gleise eines [parteipolitischen] Showdowns geraten, und nicht einmal unter die Schatten eines ethnischen Antagonismus geraten. Wir haben gekämpft für den Geist der Bürgerbeteiligung, um einen Konsens zu finden, dem alle zustimmen können.
Tsai ist eine eher spröde Wahlkämpferin, aber in einer Rede wie der im November 2010 durfte natürlich auch eine persönliche Note nicht fehlen:
Diese sechs Monate Wahlkampf in New Taipei haben aus mir, einer Universitätsprofessorin, einer Angehörigen der Elite, eine Politikerin nahe an den Menschen gemacht, die normal mit ihnen kommunizieren [...] und ihre Gefühle mitempfinden konnte. Ich möchte den Bürgern von New Taipei wirklich danken.
Die Kandidatin
So redet jemand, der noch viel vorhat. Tatsächlich hatte Tsai wenig Grund zur Unzufriedenheit: zwar gewann die KMT drei der fünf Bürgermeisterwahlen, aber den abgegebenen Stimmen nach lag die DPP vor der Regierungspartei.
Von Bedeutung für ihre weiterhin führende Rolle in der DPP war aber auch Tsais Funktion als Parteichefin. Zweieinhalb Jahre vor Tsais gescheiterten Kandidatur in New Taipei war die DPP nach einer verlorenen Präsidentschaftswahl am Boden gewesen, und bald nach Tsais Übernahme des Parteivorsitzes wurde der bis dahin erste und letzte taiwanische Präsident, den die DPP gestellt hatte, der Korruption angeklagt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Chen Shui-bian, der vor seinen zwei Amtszeiten an der Staatsspitze als fähig und integer gegolten hatte, war im Präsidentenamt wenig erfolgreich gewesen und galt bald nach dem Ende seiner Amtszeit als unberührbar.
Damit verglichen war die Schwarzgeldaffäre der CDU eine Kleinigkeit. Aber ebenso wie die deutsche Dauerregierungspartei 1999 brauchte im Jahr 2008 die taiwanische Daueroppositionspartei eine Trümmerfrau an der Spitze. Sie traf eine gute Wahl: anders als ihr Vorgänger Chen enttäuschte Tsai ihre Partei nicht. Dass die DPP bereits 2010 wieder als ernstzunehmende politische Kraft an mehr oder weniger landesweiten Wahlen teilnehmen konnte, war maßgeblich ihr Verdienst.
Hinzu kam allerdings - nach 2010 - auch ein rapider Verfall der Regierungsautorität, die der traditionellen Regierungspartei KMT zuvor jahrzehntelang zugute gekommen war - seit der Einführung freier Wahlen in den 1980er und 1990er Jahren. Gelang es Präsident Ma Ying-jeou - den häufig wenig verlässlichen Taiwaner Meinungsumfragen zufolge - im Frühjahr 2010 noch, eine Mehrheit seiner Mitbürger in öffentlichen Debatten vom Nutzen eines Freihandelsabkommens mit China zu überzeugen, begann das Thema bald nach seinem erfolgreichen Abschluss schlecht zu riechen. Dieses Projekt, ECFA genannt, war eins der wichtigsten Anliegen Mas gewesen, vergleichbar vielleicht dem "Universal-Healthcare"-Projekts Obamas in den USA, aber weit weniger populär.
Was Ma Ying-jeou für seine Präsidentschaft, die im Mai enden wird, als Erfolge verbuchen kann, sind die Beziehungen Taiwans zur VR China, ein mehrere Jahre anhaltendes Wirtschaftswachstum in Taiwan (zuletzt allerdings schwächelnd), und eine starke Position im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb.
Aber die Beruhigung in den "Beziehungen über die Taiwan-Straße", wie man die komplizierten Beziehungen zwischen Taipei und Beijing gerne nennt, ist zweischneidig. Zum einen erhöht das engere Verhältnis die wirtschaftliche Abhängigkeit Taiwans von China, das seinen "Anspruch" auf die "Provinz" Taiwan nie aufgegeben hat. Zum anderen gilt die positive ökonomische Entwicklung, die Ma und die KMT gerne dem ECFA zuschreiben, selbst als ein Effekt, der vor allem den Reichen Taiwans genützt habe.
Die von Tsai 2010 im Kommunalwahlkampf thematisierten Belange haben also in den letzten fünf Jahren an Bedeutung noch gewonnen.
Neue China-Doktrin, 1999
Die Versuche des früheren Präsidenten Chen Shui-bians (DPP) von 2000 bis 2008, Taiwans faktischer Eigenstaatlichkeit auch zur internationalen Anerkennung zu verhelfen, waren ein Fehlschlag. Sie scheiterten mutmaßlich vor allem an der Opposition der KMT gegen große Schritte in diese Richtung und an amerikanischem Druck, den Status Quo aufrechtzuerhalten.
Präsident Ma, der die Präsidentschaftswahlen 2008 gewann, hob den Ärger hervor, den Taiwan seinem wichtigsten Verbündeten und seiner Nachbarschaft mit Chens Politik gemacht habe: sein Land müsse ein "Friedensstifter, kein Problemverursacher" sein.
Nach zwei Jahren stand es um Taiwans Verhältnis zu Beijing und zu Washington zwar um vieles besser als 2008, aber bei den heimischen Wählern war Ma Ying-jeous politischer Kredit nahezu aufgebraucht. 2012 wählte man den Amtsinhaber zwar noch einmal, aber nur, um ihn bereits während der viermonatigen Phase zwischen Wahl und Vereidigung wieder auf Tauchstation in den Meinungsumfragen zu schicken. Dort blieb er bis heute.
Tsai ist für Beijing eine alte Bekannte, aber keine alte Freundin. In den späten 1980er Jahren begann sie, die damalige KMT-Administration » Lee Teng-huis in außenpolitischen und außenhandelspolitischen Fragen juristisch zu beraten, und 1999 war sie Ko-Autorin eines Konzepts, dem zufolge Lee Teng-hui fortan die Beziehungen Taiwans zu China als zwischenstaatliche Beziehungen definierte. Bis dahin hatte Taiwan als Republik China einen Herrschaftsanspruch auf das chinesische Festland erhoben, ebenso wie umbekehrt (und bis heute) Beijing auf Taiwan. Als DPP-Kandidat Chen Shui-bian im Mai 2000 die Präsidentschaft übernahm, wurde Tsai Vorsitzende des Rates für Festlandangelegenheiten, der heute noch bestehenden taiwanischen Regierungsagentur für Taipeis halboffizielle Beziehungen zu China.
Schon Präsident Lee Teng-hui hatte, ungeachtet seiner Zugehörigkeit zur china-nationalistischen KMT, in China als "spalterisches Element" gegolten. Für Chen Shui-bian und seine Regierungsmannschaft galt das erst recht - die DPP trat ausdrücklich für eine neue staatliche Ordnung ein, etwa unter dem Namen "Republik Taiwan" anstelle der traditionellen "Republik China". Und einen im Jahr 1992 informell erzielten "Konsenses"zwischen chinesischen und taiwanischen Vertretern, dem zufolge es "ein China", bestehend aus China und Taiwan, aber verschiedene Interpretationen des einen China gebe, haben die DPP und Tsai bis heute nicht anerkannt. Aus ihrer Sicht handelt es sich um zwei verschiedene Staaten, wenn nicht zwei verschiedene Länder.
Kontinuität und Gewöhnung
Mit Ma Ying-jeou hat Tsai gemeinsam, dass die taiwanische Öffentlichkeit viel Zeit hatte, sich an sie zu gewöhnen. Ma Ying-jeous politische Karriere begann in der Administration des Präsidenten Chiang Ching-kuo, also noch zu vordemokratischen Zeiten. Und Tsai war der interessierten Öffentlichkeit spätestens ab den frühen 1990er Jahren bekannt. Aufgrund der stark eingeschränkten außenpolitischen Bewegungsfreiheit Taiwans war es außerdem wichtig, dass sich die amerikanische und chinesische politische Klasse an sie gewöhnen konnte. Kamen im September 2011 noch Geräusche aus Washington, die sich als Ablehnung Tsais durch die Obama-Administration deuten ließen, blieben solche Botschaften im Präsidentschaftswahlkampf 2015/16 aus. Und aus Beijing kamen bereits 2011 Signale, die auf eine Bereitschaft zur Tolerierung eines unerwünschten Wahlergebnisses hindeuteten, wenn es denn nun einmal unvermeidlich sei: es sei schwer vorstellbar, dass die "Beziehungen über die Taiwanstraße" sich aufrechterhalten oder weiterentwickeln könnten, wenn Tsai den Konsens von 1992 nicht anerkenne, so ein Sprecher des "Büros für Taiwanangelegenheiten" des Zentralkomitees und des Staatsrats.
Das war immerhin keine Drohung mit dem Abbruch der Beziehung, geschweige eine Kriegsdrohung, und damit - als Statement - Tsai-"freundlicher", als man es von Beijing erwartet hätte.
Aussichten
Obwohl selbst KMT-nahe Medien um die Jahreswende 2011/12 mit einem Wahlsieg Tsais zu rechnen begannen, tauchte Präsident Ma noch einmal aus dem Meer des Misstrauens auf, in das ihn die Meinungsumfragen zwei Jahre lang gestürzt hatten - allerdings nur, um nur Wochen später wieder unterzugehen. Jonathan Sullivan, ein britischer Wahlbeobachter, erklärte vier Tage nach dem Wahltag, welche - zum Teil sehr taiwanischen - Faktoren ihn dazu veranlasst hatten, Tsais Chancen auf einen Wahlsieg zu überschätzen.
Was von den Umfragen diesmal zu halten ist, werden wir in wenigen Stunden wissen. Sehr wahrscheinlich ist, dass Tsai zur Präsidentin gewählt wird. Möglicherweise gelingt es der DPP außerdem, erstmals in der Geschichte der Republik China eine absolute Mehrheit im Parlament zu erringen. Ob das für Tsai eine gute oder schlechte Nachricht wäre, ist gar nicht so leicht zu beurteilen, wie man zunächst glauben würde.
Zum einen sind die derzeitigen Unterstützer der DPP und Tsais unterschiedlich motiviert. Es gibt einen relativ festen Unterstützerkreis, der seit Jahren auf entscheidende Wahlsiege der DPP hofft, weil sie für Taiwans Eigenstaatlichkeit internationale Anerkennung wollen, unter Umständen - trotz chinesischer Kriegsdrohung - auch eine formale Deklaration dazu. Von Tsais hauptsächlichen Gegner im Wahlkampf, dem amtierenden KMT-Chef Eric Chu, haben sie in dieser Hinsicht » nichts zu erwarten. Dass Tsai allerdings den "1992er Konsens" zwischen KMT und KP Chinas nicht anerkennt, bedeutet nicht, dass sie in der Aufwertung des diplomatischem Status Taiwans ihre Hauptaufgabe sähe.
Zum einen erkennt sie die "Republik China auf Taiwan" mittlerweile als eine Art Mitbürger an, und zum anderen erwartet ein Großteil ihrer Wähler - über den festen Unterstützerkreis hinaus - gerade nicht die taiwan-nationalistische heiße Luft, die die Präsidentschaft Chen Shui-bian gekennzeichnet hatte. Statt dessen soll sie die Wirtschaft stabilisieren und dabei für eine gerechtere Einkommensverteilung sorgen, als es die KMT, eine sprichwörtliche Big-Business-Partei, es je fertigbringen könnte. Darin liegt die eventuelle Mehrheitsfähigkeit der DPP.
Sollte es heute abend für die Präsidentschaft, aber nicht für eine parlamentarische Mehrheit reichen, wird Tsai voraussichtlich auf ein Konzept zurückkommen, für das sie schon am 7. Januar 2012, eine Woche vor dem damaligen Wahltag, Sympathien erkennen ließ. Im Westen lief das wohl am ehesten auf eine Konkordanzdemokratie hinaus, vielleicht auch auf Aspekte einer deliberativen Demokratie.
Ob die KMT dabei als Oppositionspartei mitmachen würde, ist eine spannende Frage - die Erfahrungen der Chen-Ära lassen eher eine Fundamentalopposition der KMT mit allen Mitteln erwarten. Allerdings hatte Chen Shui-bian als Präsident auch alles, was eine unsympathische Nervensäge braucht. Tsai hingegen ist heiße Luft glaubhaft fremd; für Disharmonien würde die Taiwaner Öffentlichkeit vermutlich vor allem die KMT verantwortlich machen.
Stünde Taiwan nicht im Schatten des schlechten Gewissens, das die Weltöffentlichkeit angesichts ihrer vernachlässigten Beziehungen zu dieser Inseldemokratie - zu Recht - gelegentlich plagt, könnte es schon heute als ein großes Labor der Demokratie gelten. Aber auch das Gegenteil ist wahr: wo wären Demokraten stärker genötigt, die Vorteile und Stärken ihrer politischen Lebensform unter Beweis zu stellen, als im Schatten eines großen totalitären Nachbarn?
Man darf auf Tsai gespannt sein - vorausgesetzt, sie gewinnt die heutigen Wahlen.
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Kommentare 17
Vielen Dank für die Einblicke und Einschätzungen.
Gerne! Ein Punkt hätte unbedingt noch in den Post hineingehört: zu Tsais Arbeit als Vorsitzende des Rates für Festlandangelegenheiten gehörte es, dass sie - just in der "chinafeindlichen" Chen-Administration - eine Legalisierung taiwanischer Investitionen in China aushandelte. Während auf der Bühne die krachenden Vaterlandsverrats-Shows liefen - in festländischer und taiwanischer Interpretation -, lief hinter der Bühne der ganz normale Geschäftsbetrieb.
Die Dame wirkt wie ein Kohl/Merkel Klon, generiert zur Wiedervereinigung von Taiwan und China. Ist vorstellbar das derartiges vielen Reichlingen usw. nicht gefallen möge, daher sollte die Tsai ing wen gut auf sich aufpassen. Ich drücke mal die Daumen für alle Beteiligten und sage dem JR. dankeschön für die umfangreiche Information.
greetings from the pit -abghoul
Die Dame wirkt wie ein Kohl/Merkel Klon
Da scheint mir insofern etwas dran zu sein, dass die DPP, an der Elle des deutschen Parteiensystems gemessen, sowohl sozialdemokratisch als auch grün als auch liberal als auch an ihren Rändern Linkspartei ist. Übrigens hat die FDP sich sogar schon mal um direkte Kontakte zur DPP bemüht. Nur von der CDU finde ich bei der DPP überhaupt nichts.
Aber Tsai hat bei allem Pragmatismus bestimmte Überzeugungen, bei denen sie keine Kompromisse machen wird. Das unterscheidet sie von Merkel, und auch, dass sie Ideen hat. Was daraus wird, wird man sehen - aber anders als Merkel entwickelt Tsai Konzepte und fährt nicht nur "auf Sicht".
Tsai muss tatsächlich gut auf sich aufpassen. Sie wird manche Anhänger enttäuschen müssen, und ihr wirtschaftspolitischer Erfolg hängt - auch - von Chinas Mitwirkungsbereitschaft ab.
Da fühle ich mich auf den allerneuesten Stand gebracht. Danke, JR´s China Blog.
"Statt dessen soll sie die Wirtschaft stabilisieren und dabei für eine gerechtere Einkommensverteilung sorgen, als es die KMT, eine sprichwörtliche Big-Business-Partei, es je fertigbringen könnte. "
Die schwierigste Aufgabe für die neue Präsidentin Tsai Ing-wen, angesichts des globalen Trends, Vermögen und Einkommen extrem zu differenzieren und an der Spitze zu kummulieren.
Die "Normalisierung" der Wachstumsraten Asiens auf ein Durchschnittsniveau von jungen Industrie- und Dienstleistungsstaaten, macht es nicht leichter.
Die alten Staaten dieser Form (Europa), haben ja meist noch weniger Wachstum, und bisher weiß auch noch kein Ökonom ("Popstar") und kein aussichtsreicher Politiker (Neigung zum Popstar), was an Stelle des Wachstumsdogmas treten könnte und gleichzeitig den erreichten Wohlstand gerechter verteilte.
Beste Grüße und weiter
Christoph Leusch
Vielen Dank für die interessanten und gut lesbaren Infos!
Beim Lesen fragte ich, ob das Verhältnis der USA zu Taiwan nicht sehr ähnlich ist wie das Russlands zu den "abtrünnigen Gebieten" wie Abchasien, wo es ebenfalls im Interesse Moskaus ist, den unklaren "Zwitterstatus" der Regionen beizubehalten. Würde eine neue Herangehensweise und stärkere Akzeptanz der Trennung nicht die Chance auf eine konstruktive, friedliche Einigung mit Beijing erhöhen?
Das würde auch erklären, warum es offenbar 2011 noch Widerstand gab gegen Tsais Präsidentschaft.
Die schwierigste Aufgabe für die neue Präsidentin Tsai Ing-wen ...
Das stimmt - allerdings werden an Tsai - meiner Wahrmehmung nach - relativ überschaubare Ansprüche gestellt. Jede kleine Schritt in die richtige Richtung würde mit Respekt quittiert. Gerade das macht viele gute Schritte über die nächsten vier Jahre wahrscheinlicher. Dass die Tsai-Präsidentschaft sozusagen im Nihilismus unterginge, ist zwar denkbar, aber nicht wahrscheinlich.
Würde eine neue Herangehensweise und stärkere Akzeptanz der Trennung nicht die Chance auf eine konstruktive, friedliche Einigung mit Beijing erhöhen?
Ich glaube, mir fällt schon eine Antwort ein, bevor Sie meine Nachfrage beantworten, aber welche Trennung meinen Sie? Trennung von wem?
Trennung zwischen Taiwan und dem Festland.
Passenderweise habe ich mich vorhin mit 2 jungen Taiwanern unterhalten die mir bestätigten, dass das Verhältnis zu China eine wichtige Rolle spielte im Wahlkampf und mir von den "Fahnen" ihrer SportlerInnen bei Olympiaden berichteten...
Ja, das Problem steckt mit in dem Namen, unter dem Taiwan bei internationalen Wettkämpfen auftreten muss, um überhaupt dabei sein zu dürfen - "Chinese Taipei". Das deckt sich mit der Doktrin der "Ein-China-Politik".
Eine Akzeptanz der Trennung durch Beijing könnte in Taiwan die Haltung gegenüber China erheblich freundlicher werden lassen. Allerdings hat die chinesische Führung zum einen zuviel in die "Realität" investiert, Taiwan gehöre unverbrüchlich zu China, und zum anderen sieht es sich in einer Position, in der es sich auf einen guten öffentlichen Willen in Taiwan gar nicht verlassen müsse, da die Zeit sowieso für das chinesische Festland arbeite, und im Notfall eben auch militärische Mittel angewendet werden dürften.
Tatsächlich können Sie (fast) jeden Chinesen fragen, und er wird ihnen bestätigen, dass Taiwan nicht weniger zu China gehöre als Tibet oder Xinjiang. Und wenn sie tiefer in die Debatte einsteigen, wird er vermutlich hinzufügen, 1,3 Milliarden Chinesen hätten nun einmal mehr zu melden alsgut zwanzig Millionen Taiwaner.
Die Welt, in der Taiwan chinesisch ist, wird in so einer Diskussion nicht verlassen. Die Logik ist klar, denke ich: was Taiwan erlaubt würde, könnten dann womöglich (oder zwangsläufig) auch Tibeter oder Uighuren für sich fordern.
Noch ein Punkt: es gibt spätestens seit der Massenflucht aus China nach Taiwan gegen Ende der 1940er Jahre (Niederlage der KMT) ja nicht nur eine taiwanische, sondern auch eine chinesische Identität auf Taiwan. Die lässt zwar nach, und die Wahrnehmung, je jünger, desto taiwanischer, scheint mir zuzutreffen.
Aber auch innerhalb Taiwans gibt es eine chinesisch-taiwanische Balance zu wahren. Es kann allerdings sein, dass die Tage der KMT als chinesische Partei gezählt sind, und dass sie sich "neu erfinden" muss, wenn sie Bestand haben will.
Noch hinzu kommen geostrategische Interessen, nicht nur chinesische, sondern auch amerikanische. Aber das ist ja eigentlich Ihr Fachgebiet. Wollen Sie übernehmen?
Jein, da ich mich speziell zur Situation Taiwans nicht sonderlich auskenne. Rein logisch würde ich annehmen, dass die USA eine Aussöhnung verhindern wollen und ihnen daher die völlig festgefahrene Zweideutigkeit inkl. der Drohung mit militärischen Mitteln gelegen kommt. Solange Taipeh das Festland als existenzielle Bedrohung betrachtet, ist es von den USA abhängig und damit potentielles Aufmarschgebiet. Meine Hoffnung wäre daher, dass eine neue Regierung und Generation offener ist für eine Neudefinition der Beziehungen und stärkere gegenseitige Anerkennung. Dass seit 1949 mindestens zwei Generationen vergangen sind und die alte chinesische KMT-Identität verschwindet, sollte in der Tat zu einer Neuaufstellung der Partei führen - oder ihrem Untergang. Gleiches gilt jedoch auch für die neue Tendenz der USA, eine multipolare Weltordnung als Fakt zu akzeptieren.
Auch die beiden Taiwanesen haben vermutet, dass Taiwan eher im Hinblick auf Tibet und Xinjiang eine Bedrohung für Chinas Einheit darstellt als für sich. Insofern wäre aber auch die Frage, ob BJ sich mit einem neuen Verhältnis auf Augenhöhe anfreunden könnte, wenn Taiwan garantiert blockfrei/ neutral bliebe...? Ich frage mich gerade, wie ein neuer Formelkompromiss aussehen könnte... "innerhalb eines blockfreien Chinas zwei unabhängig voneinander regierte Landesteile, VRC und Taiwan"...
Ich bin selbst nicht so an Strategie interessiert (und entsprechend wenig informiert), aber zwei Namen, die bei Chinesen im Zusammenhang mit Chinas Navy und ihrer Daseinsberechtigung immer wieder fallen, sind der mehr oder weniger historische Alfred Mahan und der mittlerweile ebenfalls verstorbene chinesische Admiral Liu Huaqing (einer der größten Fans Mahans).
Versuch einer Einschätzung (mehr eine Vorstellung von der Wirklichkeit als notwendigerweise die Wirklichkeit selbst):
Zu Chinas Vorstellungen gehört auch die militärische Machtausübung im pazifischen und indischen Ozean, zur Sicherung seiner Handelsrouten. Auf Seite 3 dieses Dokuments, bei Erwähnung der Kurillen, Japans, der Ryukus, und der Philippinen, ahnt man vielleicht schon, dass die Reise auch nach Taiwan geht, und dass es auch strategische Gründe gibt, Taiwan annektieren zu wollen.
Eine Voraussetzung für ein blockfreies Taiwan wären zwei bis drei involvierte Staaten, die einander vertrauen: Amerika und möglicherweise Japan auf der einen, und China auf der anderen Seite. Das Vertrauen ist aber nicht da, und ich meine, es ließe sich auch gar nicht begründen.
China redet zwar viel von einer multipolaren Welt, aber das tut jedes Land, das (noch) keine unipolare Macht ausübt. Kein Nachbar Chinas vertraut China - und in der Nachbarschaft zeigt sich, was eine unipolare chinesische Macht tut, wenn sie es kann.
Amerikas fast bedingungsloses Interesse an der weiteren unipolaren Ausübung der Macht ist ebenfalls Fakt. Keine Seite würde der anderen beim jetzigen Status glaubhaft machen können, eine taiwanische Neutralität tatsächlich zu respektieren. So lange beide Seiten in der Lage sind, im Spannungsfall "präventiv" die Insel einzunehmen, ist wirklich nur die Frage, wer es im Fall der Fälle schneller hinbekommt, und wer es zuerst für nötig hält.
Nur Fakten entscheiden so gesehen über Taiwans Zukunft, und keine guten oder bösen Absichten. Schriebe man die jetzigen ökonomischen und militärischen Trends einfach fort (was eine zweifelhafte Methode wäre, aber was soll's), fällt Taiwan früher oder später tatsächlich China zu. Das allerdings würde unter Umständen geschehen, unter denen Amerikas Verbündete einsehen können, dass das unvermeidlich sei - ansonsten stünde die bündnispolitische Glaubwürdigkeit der USA auf dem Spiel.
Ganz abgesehen davon soll man den Populärdogmatismus nicht unterschätzen - das, was dem Volk gepredigt, aber auch wirklich in allen Schichten geglaubt wird, in Amerika und in China. Ein chinesischer Staats- und Parteichef, der auch nur intern anregen würde, die Behauptung der Jungfräulichkeit Marias Chinazugehörigkeit Taiwans aufzugeben, könnte sich m. E. genauso eindosen lassen wie ein amerikanischer Präsident, der sich einer multipolaren Welt verschriebe. Er würde sich an einer heiligen Realität vergehen. Sowohl Amerika als China sind in ihrem jeweiligen Glauben an ihre Einzigartigkeit wirklich singulär - also zweimal singulär.
Zu Chinas Vorstellungen gehört auch die militärische Machtausübung im pazifischen und indischen Ozean, zur Sicherung seiner Handelsrouten.
Das ist für eine Großmacht eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Was Taiwan angeht, wäre meine These ebenso wie bei Tibet und Xinjiang: China braucht es strategisch nicht wirklich, hat aber panische (und berechtigte) Angst, dass eine andere Macht sich dort festsetzen könnte. Kubakrise lässt grüßen, damals haben die USA Kuba den Russen in die Arme getrieben. Um das zu verhindern, würde Beijing wohl sogar eine Invasion starten. Amerika wird in nächster Zeit vor allem mit sich selbst beschäftigt sein, womit eine Blockfreiheit realistischer würde. Was Unilateralismus angeht gebe ich Ihnen Recht - umso wichtiger, dass *jetzt* das "window of opportunity" genutzt wird, Völkerrecht und UN zu stärken, solange China noch nicht globale Hegemonialmacht ist! Die Mittelmächte (D, Iran, Ru, Indien, Japan, Bras) haben daran ein gemeinsames Interesse.
Amerikas fast bedingungsloses Interesse an der weiteren unipolaren Ausübung der Macht ist ebenfalls Fakt.
Interesse ja, Fähigkeit nein.
Nur Fakten entscheiden so gesehen über Taiwans Zukunft, und keine guten oder bösen Absichten. .... dass das unvermeidlich sei
Sehe ich ziemlich genauso. Es ist nicht Chinas Stil, aggressiv vorzugehen, wenn genausogut abgewartet werden kann, bis es ohnehin unvermeidlich wird. Wenn die andere Seite keine andere Option mehr hat, hat BJ gewonnen - so wie derzeit an den Finanzmärkten gut zu beobachten ist.
Ganz abgesehen davon soll man den Populärdogmatismus nicht unterschätzen
Absolut richtig. Das war bislang alles rational strategisch gedacht, aber gerade wenn es um Nationalismus geht spielen irrationale Elemente eine starke Rolle. Daher braucht so ein Prozess viel Zeit, oft muss die alte Generation wegsterben, oder es muss ein ganz neues Thema die allgemeine Aufmerksamkeit fesseln. In China wird sich so bald nichts ändern (vielleicht die Sprachregelung ein wenig), aber in den USA schon: Obama hat mit dem Iranabkommen und der Syrienlösung de fakto de multipolare Welt anerkannt. Deswegen hassen sie ihn ja zuhause so und regiert er seit einem Jahr nur noch per Dekret.
Es gibt eine interessante Beobachtung, dass *jedes Land* sich für singulär hält: splendid isolation, Deutscher Sonderweg, exception francaise, god's own country, indispensable nation...Darüber habe ich sogar mal ein Lied geschrieben für eine Sängerin, die ich damals sehr toll fand.
In China wird sich so bald nichts ändern
Dem würde ich widersprechen: China wird nationalistischer. Es gibt keine öffentlichen Räume mehr, in der über die Politik der Partei im allgemeinen / Xi Jinpings und Wang Qishans im besonderen noch kritisch diskutiert werden könnte - das gibt es meiner Wahrnehmung (den mir zugänglichen Publikationen) nach auch unter Akademikern immer weniger.
Das wird m. E. Chinas Innovationsfähigkeit negativ beeinflussen (sicher nicht aufheben); den Machterhalt der KP Chinas aber begünstigen. Und um den geht es immer in erster Linie. Reform und Öffnung, so weit sie gingen, waren in der Hinsicht Mittel zum Zweck.
Natürlich waren sie das, wie der gesamte chinesische "Kapitalismus". Wang Qishan, ich bin so schlecht schon mit westlichen Namen...haben Sie schonmal was geschrieben zur anti-Korruptions-Kampagne? Würde mich sehr interessieren, wie Sie das einschätzen, wie das Verhältnis von tatsächlicher Korruptionsbekämpfung zu "auf Linie bringen" ist.
Was ich meinte mit "ändert sich so bald nichts" war nur die Einstellung zur Taiwanfrage, nicht allgemein! Hier würde ich wenn überhaupt eine etwas modifizierte Sprachregelung erwarten.
Die aktuelle große Frage ist m.E., ob China nicht nur nachmachen und aufholen, sondern auch entschlossen führen kann. Beijing muss jetzt eigene Ideen entwickeln, wie es global weitergehen soll, denn aus den westlichen Ländern gibt es keine den aktuellen Krisen auch nur halbwegs angemessenen Impulse. Insofern ergibt es ziemlich viel Sinn, jetzt die Kontrolle der Partei über das Land zu festigen.
haben Sie schonmal was geschrieben zur anti-Korruptions-Kampagne?
Nicht ausführlich, und das bliebe auch einstweilen in weiten Teilen spekulativ / Einschätzungssache.
Insofern ergibt es ziemlich viel Sinn, jetzt die Kontrolle der Partei über das Land zu festigen.
Das kann jede Elite in jedem Land der Welt von sich sagen, und ich vermute, das ist auch eine bevorzugte Rationalisierung machtorientierten Handelns.
Ich lege allerdings keinen Wert darauf, jemanden seine Macht über mich festigen zu lassen.
Kann ich gut nachvollziehen, aber wenn China aktuell an einem historischen Wendepunkt steht, hätte dieser Standpunkt zumindest eine gewisse inhärente Logik...