USA: Black Lives Matter? Polizei und Justiz festigen eine Gesellschaft der tiefen Gräben

Gewaltspirale Am 7. Januar wird in Memphis/Tennessee ein Afroamerikaner bei einer Verkehrskontrolle erschlagen. Eigentlich hatte Präsident Joe Biden Polizeireformen versprochen. Doch die stehen weiter aus
Ausgabe 06/2023
Schon wieder hat die Polizei einen Afroamerikaner brutal ermordet
Schon wieder hat die Polizei einen Afroamerikaner brutal ermordet

Foto: Imago / ZUMA Wire

Bei der Festnahme habe er „K.-o.-Schläge verpasst“, prahlt der Polizist. Mit Kollegen macht er Pause nach dem Einsatz. Es wird gescherzt, eine Zigarette geraucht. Körperkameras der Uniformierten nehmen auf. Der Festgenommene stirbt drei Tage später im Hospital. Massive Blutungen, steht im Autopsiebericht. Wieder einmal, schon wieder, Videoaufnahmen von horrender Polizeibrutalität. Es geschah diesmal in Memphis (Tennessee). Fünf Polizisten haben dort am siebten Januar bei einer Verkehrskontrolle mit Schlagstock und Fäusten auf den 29-jährigen Schwarzen Tyre Nichols eingeschlagen, ihm mit Elektroschocks und Fußtritten zugesetzt. Nichols, angestellt bei einem Lieferdienst und Hobby-Fotograf, war laut Anwalt seiner Familie auf dem Heimweg von Aufnahmen bei Sonnenuntergang.

Millionen Menschen sind nach dem gewaltsamen, ebenfalls von der Polizei verschuldeten Tod des Schwarzen George Floyd im Mai 2020 auf die Straße gegangen, über Monate hinweg. Black Lives Matter! Die Leben schwarzer Menschen zählen. Es sah so aus, als würde die größte Bürgerrechtsbewegung der US-Geschichte entstehen. Viele junge Amerikaner demonstrierten, auch zahlreiche Weiße. Politiker äußerten sich empört und versprachen neue Gesetze. Nur im ganz rechten Spektrum wurde nach Ausreden gesucht, dass Floyd irgendwie selbst schuld gewesen sein könnte. Drei Jahre später ist offensichtlich: Der Protest hat manche Weiße zum Nachdenken gebracht und einige örtliche Polizeireformen bewirkt, doch das meiste blieb gleich. Die Washington Post führt eine Datenbank über tödliche Polizeischüsse. Die Zahlen liegen seit 2015 bei gut 1.000 pro Jahr. 2022 waren es 1.096 Fälle, die schwarze Menschen überproportional betrafen. Nach dem Mord an George Floyd, der von einer Passantin gefilmt wurde, hieß es: Handybilder würden Veränderungen erzwingen. Ebenso Körperkameras, die bei Polizisten in den USA seit zehn Jahren zunehmend in Gebrauch sind. Es gibt erste Studien über die Wirksamkeit gegen Polizeibrutalität – sie ist begrenzt.

Die Polizisten in Memphis haben gewütet und hinterher geschäkert im Wissen darum, dass die Vorgänge aufgezeichnet wurden, und in dem Glauben, die Bilder würden ihnen nicht schaden. Rechte US-Medien versuchten es mit Spott: Die fünf Polizisten seien Afroamerikaner, also könne Rassismus nicht schuld sein, wie das „liberale Amerika“ sonst immer behaupte. Was der grausamen Tat zugrunde liegt: Verglichen mit Deutschland akzeptiert die US-Gesellschaft eine enorme Brutalität des Staates. Sei es in Form von Masseninhaftierung (zwei Millionen Menschen sind hinter Gittern), unsäglichen Zuständen im Gefängnis, der Todesstrafe oder eben Gewalttätigkeit in Uniform. Polizei und Justiz festigen eine Gesellschaftsordnung der tiefen Gräben. Wer einen Haufen Geld hat, landet kaum im Knast. Schwarze haben eher kein Geld als Weiße. Ein Tesla-Fahrer wird höchst selten aus dem Auto gezerrt. Dass die fünf Polizisten schwarz sind, kollidiert mit der Annahme, dass sich Beamte anders verhalten, die den gleichen gesellschaftlichen Hintergrund haben wie die Menschen in ihrem Dienstbereich.

Trotz all der schönen Reden, zuletzt von Vizepräsidentin Kamala Harris bei Tyre Nichols’ Trauerfeier: Die politische Elite hat gezeigt, dass sie die Zustände nicht wirklich verändern will. In zwei Jahren mit Biden und einer demokratischen Mehrheit im Kongress hat sich wenig getan. Besser ausgebildete Polizisten wollte der Präsident, doch republikanische Politiker warnen vor einer nicht existierenden Welle der Kriminalität. Das kommt an, und mit dem Thema Polizeireform gewinnt man keine Wahl.

Die fünf Polizisten in Memphis sind wegen Mordes zweiten Grades angeklagt. Schreckt das ab? Wenn viele Videos von Polizeigewalt online gehen und im Fernsehen wiederholt werden, vermitteln sie den Hinterbliebenen der Opfer vor allem, dass ihre Leben eben nicht zählen.

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