Armenien: Seit sich Russland zurückhält, wird Iran zur Schutzmacht

Sangesur-Korridor Aserbaidschan hat ein Auge auf einen Streifen Land geworfen, der zu seiner westlichen Exklave Nachitschewan in Armenien und von dort weiter zur Grenze mit dem Iran führt. Die nächste Eroberung?
Ausgabe 07/2024
Die Fahrt aus Jerewan ins Grenzstädtchen Meghri dauert gut sieben Stunden, es geht über einen 2.535 Meter hohen Pass, dem die Leitplanken fehlen. Meghri liegt bedeutend tiefer in einer mildwarmen Oase zwischen kahlen Felsen.
Die Fahrt aus Jerewan ins Grenzstädtchen Meghri dauert gut sieben Stunden, es geht über einen 2.535 Meter hohen Pass, dem die Leitplanken fehlen. Meghri liegt bedeutend tiefer in einer mildwarmen Oase zwischen kahlen Felsen.

Foto: Imago/Wirestock

Um ein mögliches Schlachtfeld von morgen zu sehen, besuche ich die Gegend des „Sangesur-Korridors“. Armeniens Erzfeind Aserbaidschan meint damit eine Verbindungsstraße zu seiner westlichen Exklave Nachitschewan (in Armenien). Zusammen mit dem Verbündeten Türkei würde man diesen Streifen Land dem schwächeren Rivalen notfalls auch militärisch abringen. Bei Gelegenheit, demnächst. Die davon betroffene armenische Südregion Sjunik ist dünn besiedelt, von unzugänglichen Hochgebirgen durchzogen und führt zur kurzen armenisch-iranischen Grenze. Entlang des Grenzflusses Aras verläuft die brachliegende Bahntrasse Baku-Nachitschewan-Jerewan-Moskau. Weder Armenien noch der Iran wollen ihre Grenze jedoch hergeben.

Die Beziehungen zwischen dem „ersten christlichen Staat der Welt“ und der Vormacht des schiitischen Islam sind überraschend freundlich. Für das zwischen den feindseligen Turkstaaten Türkei und Aserbaidschan eingezwängte Armenien stellt der Iran eine Lebensader dar. Die Fahrt aus Jerewan ins Grenzstädtchen Meghri dauert gut sieben Stunden. Ich passiere die Schlucht unter dem Tatev-Kloster über die „Teufelsbrücke“. Es geht über einen 2.535 Meter hohen Pass, dem die Leitplanken fehlen. Man sieht leer zurückfahrende iranische Lkw, darunter Oldtimer mit Nase. Meghri liegt bedeutend tiefer in einer mildwarmen Oase zwischen kahlen Felsen. Es dunkelt, aber ich sehe noch den Iran. Man erkennt die verwaiste Bahnstrecke mit ihren aufwendigen Galerien. Die Schienen wurden während des jüngsten Krieges mit Aserbaidschan abmontiert und von der neuen Nationalelite verhökert. Nur die Älteren erinnern sich noch an Züge, mit denen sie zu Sowjetzeiten durch Nachitschewan nach Jerewan fuhren. Die Jüngeren wissen nicht einmal, dass der Bahnhof ein Bahnhof war.

Einer arbeitet für den russischen Geheimdienst

Am Stahlzaun des Grenzübergangs lehnen über dreißig abgenutzte Marktroller. Armenier dürfen einmal täglich 25 Kilo aus dem Iran einführen. Sie sprechen mit Zuneigung vom Nachbarland. „Er ist so groß, dass du dort alle vier Jahreszeiten gleichzeitig hast.“ „Außer Wurst kaufen wir alles im Iran.“ „Sprit ist bei denen billiger als Wasser!“ Es kommen ganze Familien im Auto aus Jerewan, schlafen eine Nacht in einer Billigpension und fahren mit ihren Einkäufen wieder ab. Ein Taxifahrer schwingt an der Grenze wehrhafte Reden gegen die befürchtete Sangesur-Aggression. Da in der angrenzenden iranischen Provinz mehrheitlich Aserbaidschaner leben, sagt er: „Die Mullahs machen das Richtige – die knuten sie ordentlich!“

Am Abend betrete ich eine russisch als „Diskoteka“ ausgewiesene Bar. Der Besitzer, der zwischendurch mit armenischen Freunden in Petersburg skypt, versammelt Gäste um eine üppige Fleischplatte Siehe da, hier sitzt das Establishment der Grenzwache. Und das lädt mich dazu. Ein scharfäugiger Soldat der Grenztruppen schaut bewegt auf 1980er-Videos, die auch mich immer noch rühren, auf den verliebten Glanz in den Augen der jungen Romina Power. Keiner der Männer war je in Italien, aber „ein Freund war in Portugal und sagt, die Leute im Süden Europas sind so wie wir“. Als Soldat darf er Armenien nicht verlassen: „In der Rente fahre ich als erstes nach Paris, mein Bruder hat dort ein Restaurant.“ Der Beamte von der Staatsbank am Grenzübergang schwärmt von seinem letzten Ausflug in den Iran. Alles sei unfassbar billig. Auf dem Markt von Dscholfa kaufe er dennoch nichts, weil er fürchte, die Händler würden ihn als Armenier abzocken.

Als die Rede auf Armeniens traditionelle Schutzmacht Russland kommt, schimpfen sie. Der Grenzsoldat reimt auf Russisch: „Tаких друзей – через хуй – в музей.“ („Wenn du solche Freunde hast, zieh sie übern Schwanz und leg sie im Museum ab!“) Der jüngste Armenier am Tisch arbeitet in Meghri für eine Einheit des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB. Er verstummt und setzt sich später weg. Anderntags fahre ich über den hohen, kahlen Meghri-Pass zurück. Ich weiß jetzt, dass ich nicht durch die Teufelsschlucht muss, sondern nur den Lastern zu folgen brauche über eine brandneue, auf 30 durchgehenden Kilometern in den Berg gesprengte Straße. Unbemerkt von der Welt, baut sich Armenien seinen eigenen Korridor – in den Iran.

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