Noch ist nichts entschieden

Demokratie Das Bundesverfassungsgericht hat die Eilanträge gegen das schnelle Inkrafttreten von CETA abgelehnt. Dennoch ist das Votum keine bloße Niederlage für die Kritiker

Man muss das für einen Moment ganz einfach durchdenken, ohne die komplexen inhaltlichen Dimensionen des europäisch-kanadischen Freihandelsvertrages CETA: Exekutivvertreter handeln ein Abkommen aus; es ist klar, dass es für dessen vollumfängliches Inkrafttreten der Zustimmung der Legislative bedarf. Doch ungerührt wollen die Exekutivvertreter das Abkommen schon vorher in Kraft treten lassen. Das Parlamentsvotum? Eine Formalie für hinterher.

Und dann wundere sich noch einer, wenn die Beschreibung von CETA als Ausdruck einer „Postdemokratie, in der Konzerne an Gesetzen mitschreiben und Politiker vor allem auf die Interessen von Wirtschaftslobbys achten“, wie es der Soziologe Oliver Nachtwey ausdrückt, solch großen Anklang findet.

125.047 Bürger klagen

Mitte September waren Hunderttausende in ganz Deutschland gegen CETA und das Freihandelsabkommen TTIP zwischen den USA und der EU auf die Straße gegangen. Nicht zum ersten Mal. Die Verfassungsbeschwerde gegen CETA, getragen von 125.047 Einzelpersonen und den Organisationen Foodwatch, Mehr Demokratie und Campact, ist die bisher größte Bürgerklage vor dem Bundesverfassungsgericht.

An diesem Donnerstag haben die Richter Eilanträge von Klagenden abgewiesen. Letztere hatten verlangt, dass die Bundesregierung darauf verpflichtet wird, am 18. Oktober im EU-Ministerrat mit Nein zu stimmen, wenn es um die Frage geht, ob CETA noch vor der Ratifizierung durch die Parlamente in Kraft treten kann.

Das ist nur auf den ersten Blick eine Niederlage für die CETA-Kritiker. Denn das Bundesverfassungsgericht stellte klar: Vorläufig in Kraft treten dürfen nur die Passagen, die zweifelsfrei allein im Kompetenzbereich der Europäischen Union liegen. Das ist für mehrere Punkte, allen voran die umstrittenen Regelungen zum Investitionsschutz und zum Arbeitsschutz, nicht der Fall. Außerdem muss die Bundesregierung sicherstellen, dass sie das vorläufige Inkrafttreten aufkündigen kann. Denn die Klärung der grundsätzlichen Frage, ob CETA gegen das deutsche Grundgesetz verstößt, steht aus. Das Bundesverfassungsgericht kann CETA also noch kippen. Der Druck im Kessel bleibt hoch.

Ein "Teilerfolg"

Dementsprechend begrüßten die jeweiligen Kontrahenten die Entscheidung. Einen "Teilerfolg" nannte sie die in einem Organstreitverfahren ebenso klagende Bundestags-Fraktion der Linken, ebenso wie Foodwatch, Mehr Demokratie und Campact, welche darüber hinaus erklärten: "Allein, dass unsere Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren intensiv behandelt wird, ist ein Riesen-Erfolg und zeigt, dass unsere Argumente nicht einfach von der Hand zu weisen sind."

Zugleich ist Bundeswirtschaftsminister und SPD-Chef Sigmar Gabriel "sehr zufrieden" und glaubt, "dass wir mit allen guten Argumenten das Verfassungsgericht überzeugen konnten". Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Ulrich Grillo, zeigte sich "erleichtert" und forderte "eine rasche Zustimmung aller EU-Mitgliedstaaten im Rat".

Der Kampf um oder gegen CETA geht also weiter. Nach dessen vorgesehener Verabschiedung durch die EU-Handelsminister am 18. Oktober ist für den 27. Oktober ist die feierliche Unterzeichnung beim europäisch-kanadischen Gipfel in Brüssel geplant.

TTIP durch die Hintertür

Freihandelskritiker befürchten, dass CETA dem US-EU-Abkommen TTIP selbst, wenn dieses scheitert, durch die Hintertür Geltung verschaffen könnte, indem etwa US-Unternehmen über ihre kanadischen Niederlassungen europäische Regierungen bei Investitionsstreitigkeiten verklagen.

Hoffnungen der CETA-Gegner ruhten zuletzt auf Österreichs sozialdemokratischem Bundeskanzler Christian Kern, dem letzten verbliebenen Kritiker im Kreis der europäischen Regierungschefs. An diesem Freitag will Kern mit dem SPÖ-Präsidium erörtern, ob die jüngst von der EU-Kommission vorgelegte fünfseitige Zusatzerklärung den Bedenken der Partei, deren Basis sich in einer Abstimmung mit knapp 90 Prozent gegen CETA ausgesprochen hat, ausreichend Rechnung trägt.

Kerns Hauptkritikpunkte sind die Einführung von Schiedsgerichten für ausländische Investoren ohne Zustimmung nationaler Parlamente, der mögliche Privatisierungsdruck für die öffentliche Daseinsvorsorge durch CETA sowie ein drohendes Absenken von Arbeitnehmerinnen-, Verbraucher- und Umweltstandards. Äußerungen aus der SPÖ-Spitze deuten jedoch daraufhin, dass die Partei sich dem europäisch-kanadischen Freihandelsvertrag am Ende nicht in den Weg stellen wird.

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Geschrieben von

Sebastian Puschner

Stellvertretender Chefredakteur und Ressortleiter „Politik“

Sebastian Puschner studierte Politik-, Verwaltungswissenschaften und Philosophie in Potsdam und wurde an der Deutschen Journalistenschule in München zum Redakteur ausgebildet. Bei der taz arbeitete er als Redakteur im Berlin-Ressort. 2014 wechselte Sebastian Puschner zum Freitag, wo er den monatlichen Wirtschaftsteil mit aufbaute. Seit 2017 ist er verantwortlicher Redakteur für Politik, seit 2020 stellvertretender Chefredakteur. Er interessiert sich besonders für Politik und Ökonomie von Hartz IV bis Cum-Ex sowie für Fragen zu Geopolitik, Krieg und Frieden.

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