Weltweite Konflikte sind absehbar und lassen sich nicht länger ignorieren

Prioritätenwechsel Das Vorjahr war gut geeignet, schlechte Nachrichten aus der Welt zu verdrängen – egal ob aus Myanmar, Jemen, Mali, Kongo, Somalia, Afghanistan. Grund dafür war der Ukraine-Krieg. Das muss im neuen Jahr nicht so bleiben. Ein Überblick
Ausgabe 02/2023
Auch ein Krisenherd: Die Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern war schon im vergangenen Jahr enorm
Auch ein Krisenherd: Die Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern war schon im vergangenen Jahr enorm

Foto: Hazem Bader/AFP via Getty Images

Schlechte Nachrichten zu verdrängen, dafür war das vergangene Jahr gut geeignet, ob aus Myanmar, dem Jemen, Mali, Kongo, Somalia oder Afghanistan – nur einige der Krisengebiete, die auf eine eher oberflächliche internationale Aufmerksamkeit stießen. Hauptgrund für die limitierte Perspektive war der Ukrainekrieg, Europas größter Konflikt seit 1945. Das soll nicht heißen, dass eine von Not und Brutalität zerrissene äthiopische Region Tigray oder Guatemala, das langsam von der Korruption erdrosselt wird, sonst weltweit Schlagzeilen gemacht hätten. Schließlich ist das westliche Interesse an Konflikten in diesen Ländern seit jeher begrenzt.

Dennoch hat die Ukraine in Nordamerika und Europa in exemplarischer Weise andere humanitäre Krisen überlagert und die öffentliche Wahrnehmung absorbiert. Dazu beigetragen haben nicht zuletzt steigende Lebenshaltungskosten, die dafür sorgten, dass der Ukrainekrieg im Westen ankam.

Unabhängig davon, wie damit 2023 umgegangen wird, sind Brennpunkte absehbar, die eine erhöhte Aufmerksamkeit erzwingen, weil sie Ressourcen beanspruchen und schwerlich zu ignorieren sind. Dazu zählen China und Ostasien sowie die missliche Lage im Nahen Osten. Ob womöglich veränderte Prioritäten im Krisenranking die Fähigkeit der Ukraine untergraben, Russland Widerstand zu leisten, ist noch offen. Das Land ist mehr denn je auf den Beistand des Westens, hauptsächlich der USA, angewiesen, wenn es ins zweite Kriegsjahr geht und die Fronten in einer Pattsituation verharren.

Zweifrontenkrieg

Die wachsenden – auch militärischen – Spannungen in Fernost gebieten auf jeden Fall besondere Beachtung. Immerhin gab es die erstaunliche Entscheidung Japans, seinen Verteidigungsetat in etwa zu verdoppeln. Gemessen an derartigen Ausgaben lag das Land bisher weltweit an neunter Stelle. Es rückt nun voraussichtlich auf Rang drei hinter den USA und China vor. Es kommt zum scharfen Bruch mit der pazifistischen Tradition nach 1945, die beispielsweise eine Beteiligung an externen Konflikten verbot.

Was treibt diesen Wandel an? Dieselben Faktoren, die Südkorea und andere ostasiatische Länder veranlasst haben, an ihrem militärischen Standing zu feilen. Ein Anstoß war der AUKUS-Sicherheitsvertrag, der im September 2021 zwischen Australien, Großbritannien und den USA geschlossen wurde. Das Motiv für diesen Pakt ergab sich aus dem Ansinnen, China Paroli zu bieten, das seine regionale Reichweite ausbaut und die Streitkräfte Taiwans zuweilen aus der Luft belagert. Mutmaßungen, dass in diesem Jahr Drohungen Xi Jinpings zur Tat werden, eine Wiedervereinigung mit Gewalt durchzusetzen, halten die „Wargamer“ des Pentagon auf Trab. Sie fragen sich: Sollten die USA das Risiko eingehen, es sowohl mit Russland als auch China aufzunehmen? Als General Mark Milley, Chef des Vereinigten Stabes der US-Streitkräfte, kürzlich Kiew nahelegte, Friedensgespräche zu erwägen, dachte er da an das Albtraumszenario eines Zweifrontenkrieges? Hatte er mit Nordkorea und seinen nuklearfähigen Raketen einen dritten potenziellen Gegner im Blick?

Der Nahe Osten, der jahrzehntelang im Mittelpunkt der US-Außenpolitik stand, wurde seit dem Irak-Debakel und Barack Obamas Ausstieg in Syrien mehr oder weniger vernachlässigt. Nun könnte 2023 das Jahr sein, in dem sich Konflikte zuspitzen, die mit dieser Distanzierung zu tun haben. Benny Gantz, Israels Ex-Verteidigungsminister, sagte soeben eine blutige Eskalation in der besetzten Westbank voraus. Sie resultiere aus der Entscheidung von Premier Benjamin Netanjahu, seinen antiarabischen Koalitionären in diesem Gebiet freie Hand zu lassen. Die Gewalt, an der Israels Armee, jüdische Siedler und Palästinenser beteiligt waren, erreichte 2022 bereits ein Rekordniveau.

Eine frontale, im Gegensatz zur verdeckten militärischen Konfrontation zwischen Israel und Iran könnte auf den endgültigen Bruch des Westens mit Teheran folgen. Das wiederum dürfte Irak, Syrien und Russland als Alliierte des Iran auf den Plan rufen. Nicht auszuschließen, dass der 2023 durch Wahlen geforderte türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Schatten einer solchen Eskalation erneut in Syrien ansässige Kurden angreift.

Simon Tisdall ist Kolumnist des Guardian

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Geschrieben von

Simon Tisdall | The Guardian

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