Kenntnisreiches Referat von Andrej Hunko

Ukraine-Krise Was geschieht wirklich in der Ukraine? Präsident und Parlament sind gewählt. Die "Volksrepubliken" der Ostukraine ließen votieren. Alles gut? Andrej Hunko meint: Nein

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Wähler warten am 2. November in Donezk darauf, ihre Stimmzettel abzugeben
Wähler warten am 2. November in Donezk darauf, ihre Stimmzettel abzugeben

Foto: DIMITAR DILKOFF/ AFP/ Getty Images

Der Präsident der Ukraine ist im Mai gewählt worden. Kürzlich fanden die Parlamentswahlen statt. Am zweiten November nun wurden die Wahlen in den sogenannten „Volksrepubliken“ in der Ostukraine durchgeführt. Das Land ist gespalten wie nie. Hin- und hergerissen zwischen dem Westen und Russland.

Ukraine-Krise: Um was geht es?

„Was geschieht wirklich in der Ukraine? Was passiert in Odessa knapp ein halbes Jahr nach dem Massaker in Gewerkschaftshaus? Weshalb findet der jetzige Bürgerkrieg in der Ukraine statt? Warum rasseln sowohl NATO-Staaten als auch Russland mit den Säbeln und welche Interessen wollen sie in der Ukraine durchsetzen?“ Über diese Frage sollte am 2. November 2014 in Oberhausen, Linkes Zentrum, während eines politischen Frühschoppens diskutiert werden. So stand es in der Einladung des Bundestagsabgeordneten Niema Movassaat (DIE LINKE).

Movassat oblag die Moderation der Veranstaltung. Zu welcher ein profunder Kenner der politischen Verhältnisse der Ukraine eingeladen worden war. Es handelte sich um Movassats Fraktionskollegen Andrej Hunko. Hunko war mehrfach in der Ukraine. Zuletzt als Wahlbeobachter bei den Parlamentswahlen vor zwei Wochen am 26. Oktober in Odessa. Der Aachener Abgeordnete ist nicht nur Bundestagsabgeordneter, sondern zudem Mitglied des Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union sowie Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.

Zunächst fasste Niema Movassat die entscheidende Ereignisse, die in die Ukraine-Krise geführt hatten.

Zur Erinnerung eine Chronologie der Ereignisse

Dezember 2013: Die Ukraine stand vor der Unterschrift des Assozierungsabkommens mit Europäischen Union. Präsident Janukowitsch lehnte dieses Abkommen ab. Beziehungsweise wollte es (gewiss auch auf Druck des russischen Präsidenten Putin) verschieben. Es kam zu den sogenannten Maidan-Protesten im Februar es zu Toten. Bis heute ist nicht klar, wer für für massive Eskalation verantwortlich war.

Dann kam es zu einer Vereinbarung zwischen Janukowitsch, der Opposition – der deutsche Außenminister Steinmeier, sowie dessen Kollegen aus Frankreich und Polen waren als Zeugen zugegen. Ende des Jahres sollten Wahlen stattfinden. Diese Vereinbarung hielt nur einen Tag. Janukowitsch musste fliehen. Erst nach Charkow. Dann nach Russland. Das Parlament erklärte ihn für abgesetzt.

Dann kochte der Krim-Konflikt hoch. Die Regionalregierung der Krim sagte, wir wollen nicht mehr Teil der Ukraine sondern stattdessen Teil Russlands sein. Im März fand ein Referendum statt. Mehrheitlich war man dafür, Russland beizutreten. Dann setzten Separationen sogenannter prorussischer Rebellen in der Ostukraine ein. Sogenannte „Volksrepubliken“ wurden gegründet. Verwaltungsgebäude wurden besetzt. Kiew reagierte mit Militäraktionen gegen die Separatisten. Gleichzeitig setzten massive Strafmaßnahmen des Westens ein. Eine Sanktionsspirale wurde in Gang gesetzt. Laut UN sollen bisher bei den Kämpfen über 4000 Menschen getötet worden sein. 930.000 wurden vertrieben. 94.000 Flüchtlinge gibt es wohl insgesamt. Sie sind außerhalb des Landes. Die allermeisten davon sind in Russland. Seit der Waffenruhe gab es um die 300 Tote.

Der Brand des Gewerkschaftshauses in Odessa wobei 42 Menschen grausam zu Tode kamen, machte auch hier in Deutschland Schlagzeilen. Der Verdacht liegt nahe, dass der Brand durch „Kiew nahe Kräfte“ gelegt worden ist. Das Ereignis ist allerdings bis heute nicht aufgeklärt. In Mai fand in der Ostukraine ein Referendum über die Unabhängigkeit statt. 89 Prozent stimmten dafür. Die EU und die USA erkannten das Referendum nicht am 25. Mai 2014 fanden die Präsidentschaftswahlen in der Ukraine statt. Im ersten Wahlkampf wurde Poroschenko gewählt. Er steht für eine stärker Annäherung an die EU. Eine ordnungsgemäße Wahl konnte in der Ostukraine nicht durchgeführt werden. Vergangenen Sonntag fanden die Parlamentswahlen in der Ukraine statt. Die Volksfront war Gewinner. Rechtsextreme Parteien verloren massiv. Am 2. November nun Parlamentswahlen in den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk. Russland will die Ergebnisse der Wahlen anerkennen.

Referat Andrej Hunko

Hunko meint, die Wahlen in den „Volksrepubliken“ dürften in den nächsten Tagen noch zu heftigen Auseinandersetzungen führen. Der Westen werde sie als illegal erklären. Russland sie anerkennen. Andrej Hunko, der seit 2012 mit dem Thema Ukraine beschäftigt ist, hat eine Mail vom Auswärtigen Amt bekommen. Darin hat man ihn „eindringlich“ aufgefordert, nicht an diesen Wahlen als Wahlbeobachter teilzunehmen. Er hätte ohnehin nicht gekonnt, so Hunko. Die Mail drücke seiner Meinung nach die enorme Sorge der Bundesregierung aus, dass Wahlbeobachter aus dem Westen an der Wahl teilnehmen könnten. Und ihr so zu einer Legitimation verhülfen.

Der Linke-Politiker, der wohl inzwischen bereits sieben bis acht Mal in der Ukraine weilte, erinnert daran, dass an diesem Sonntag das Massaker im Gewerkschaftshaus von Odessa (Link zu einem Film von Andrej Hunko) genau ein halbes Jahr her ist. An diesem Tag fänden an vielen Orten auf der Welt Kundgebungen statt, welche an die Brandopfer von Odesssa erinnern sollen. Hunko steht in engem Kontakt mit den Angehörigen der Brandtoten.

Ungeheuerliche Vorgänge

Andrej Hunko habe betreffs der Ukraine „ungeheuerliche Vorgänge“ beobachtet, die er so vor zwei Jahren eigentlich nicht für möglich gehalten habe. All das vor dem Hintergrund eine heraufbeschworenen neuen kalten Krieges, „womöglich gar eines Umschlagens in einen heißen Krieg“. Er sprach die von der NATO avisierten Aufrüstungsanstrengungen um die 2-Prozent-Zielmarke an. Diese stünde im Kontext zur Ukraine-Krise. Diese diene quasi als „das Legitmationsschwungrad“ zur Selbstlegitmation der NATO sowie der Aufforderung an die europäischen Länder, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Rüstung auszugeben. „In Deutschland würde das bedeuten, dass wir den Verteidigungshaushalt um ungefähr 70, 80 Prozent erhöhen müssen.“ Im Moment liegen wir bei 1,1, 1,2 Prozent.

Vorboten und „ein eisiges Schweigen“

Hunko sprach über „einige Vorboten“, die es im Vorfeld der Maidan-Proteste gegeben habe. Die Vorboten hätten in Verbindung mit der Nichtunterzeichnung des EU-Ukraine-Assoziationsabkommens im November letzten Jahres und den dann beginnenden Protesten auf dem Maidan Im Oktober 2012 als „recht überraschend die rechtextrem-faschistisch Swoboda-Partei 10 Prozent bei den Wahlen bekommen hatte, gestanden. Auf der internationalen Ebene, habe er, Hunko, oft die Problematik im Europarat oder anderen Ebenen angesprochen. Jedoch musste er feststellen, dass es „überhaupt kein Problembewusstsein dafür gab bzw. betreffs dessen „ein eisiges Schweigen“ geherrscht habe. In vergleichbaren anderen Fällen sei das bislang nicht der Fall gewesen. Als Beispiele nannte Andrej Hunko rechtsextreme Parteien wie Chrisi Avgi in Griechenland und den Front National in Frankreich. Am Tag nach der Wahl im Oktober 2012 sei ein gemeinsames Kiewer Bündnis aus der seitens der Konrad-Adenauer-Stiftung maßgeblich unterstützten UDAR (Schlag) von Klitschko - die bei den Wahlen um die 14 Prozent bekommen hatten - sowie der Partei Julia Timoschenkos, die gemeinsam mit der Swoboda in die Wahl gegangen war, von Deutschland unterstützt worden.

Es sei in der Hauptsache darum gegangen, die Partei der Regionen und Präsident Janukowitsch zu stürzen.

Das Zweite: Im Mai 2013 habe die Deutsche Welle einen offenen Neonazi-Blog mit dem User-Award des deutschen Auslandssenders ausgezeichnet. Ukrainische Linke hatten Hunko darauf aufmerksam gemacht. Daraufhin habe er kräftig interveniert. Nach drei Tagen sei diese Auszeichnung dann zurückgezogen worden.

Der dritte Vorbote: Kurz vor der geplanten Unterzeichnung des EU-Ukraine-Assoziierungsabkommens im November 2013 in Vilnius hat es ein Symposium in Berlin gegeben. Hunko nahm zusammen mit dem ukrainischen und russischen Botschaftern teil. Dort habe der russische Botschafter gesagt, so wie das Assoziierungsabkommen gestrickt sei, würde das Russland als Bedrohung ansehen und entsprechend reagieren. Der Linke-Politiker habe dann danach gefragt, wie denn ein Assoziierungsabkommen aussehen müssten, dass nicht zu Reaktionen Russlands führe. Doch der Zug fuhr bereits.

Das große Geld hat direkten Durchgriff auf die Politik

Die Maidan-Bewegung sei nach Ansicht Hunkos sowohl eine soziale als auch eine nationalistische gewesen. Um die Ukraine zu verstehen, müsse man wissen, dass es kein Land Europas gibt, das die Macht des großen Geldes – ausgeübt durch Oligarchen – auf die Politik so unmittelbar wirkt wie in der Ukraine. Nicht einmal in Russland sei das in diesem Ausmaß der Fall. Die ukrainischen Oligarchen, die sich in 1990er Jahren „das Volkseigentum unter den Nagel“ gerissen hatten, kontrollierten ganz direkt und unmittelbar das Parlament und die Regierung. Stehen aber auch in Konkurrenz zueinander. Der Parlamentspräsident von 2012 habe der deutschen Parlamentsdelegation erzählt, dass es in der Ukraine 80 Parteien gibt, „die sozusagen aktivierbar sind“. Das beginne bei 500.000 Euro an, „um eine Partei zu kaufen“. Hunko: „Bei Bedarf greift sozusagen ein Oligarch darauf zurück und aktiviert sich eine Partei.“ Die meisten Abgeordnete des ukrainischen Parlamentes, so sagte man Hunko, seien Geschäftsmänner. Die gehen deshalb ins Parlament, weil das für die Geschäftstätigkeit hilfreich ist und sie als Abgeordnete Immunität besitzen.“ (sic!) Das große Geld hat also direkten Durchgriff auf die Politik.

Andrej Hunko: „300 der damals 450 Rada-Abgeordneten waren Dollarmillionäre.“

Zwischen prowestlichen und prorussischen Oligarchen sei diesbezüglich kein Unterschied zu machen.

Der Doppelcharakter der Bewegung

Betreffs diesen Systems habe es zwischen Bevölkerung und Politik eine enorme Entfremdung gegeben. Nicht zuletzt, weil auch die Wirtschaft stagnierte. Die Sozialleistungen gehen bis heute zurück: „Es herrscht bittere Armut.“ Die Leute hätten den Eindruck, den Menschen im Westen, in Polen und dem Baltikum, sowie den Russen im Osten ginge es besser als ihnen in der Ukraine. Was auch real so ist. Die Unzufriedenheit mit dem Janukowitsch-Regime stieg. Janukowitsch, „ein eher kleinerer Oligarch“, sowie auch Juschtschenko und Timoschenko – alle haben das Land bestohlen. Fazit: Die Maidan-Bewegung habe eine „soziale Dimension“ gehabt, war aber „auch operativ dominiert von rechten Kräften“. In den „Schlüsselauseinandersetzungen“ vom 21. und 22. Februar habe diese ein entscheidende Rolle gespielt. Hunko sprach von einem „Doppelcharakter“ der Bewegung.

Als linkes Kräfte jenseits der Kommunistischen Partei in Ukraine gilt die Borotba (der deutschen SDAJ vergleichbar).

Wer schoss am Maidan?

Was die Schüsse vom Maidan anbetrifft, so sei bislang lediglich klar, dass sie auf Polizisten wie auch auf die Demonstranten abgefeuert - u.a vom Hotel „Ukraina“ aus - wurden. Es gab zirka 60 Tote. Darunter 17 Polizisten Wer die Schützen gewesen sind, bleibt im Dunkeln. Über Waffen verfügt hätten damals die Berkut-Einheiten Janukowitschs (hatte er noch Befehl über sie?), die bewaffneten Gruppen des Maidan (rechter Sektor) sowie die Scharfschützen mit den gelben Armbinden auf den Dächern. Woher sie kamen weiß man nicht. Noch unter welchem Befehl sie standen.

Die Schüsse dienten der Eskalation. Die Menschen des Maidan kamen schnell zum Urteil, Janukowitsch habe schießen lassen.

Der Rest ist bekannt. Das Maidan-Abkommen wurde unterzeichnet. Steinmeier habe auch ihn, Hunko, am Abend des 21. Februar am Telefon unterrichtet. Der Abgeordnete meinte damals sogar noch, das Abkommen könne sinnvoll sein. Doch am selben Abend wurden auf der Bühne des Maidan die Führer der Opposition ausgebuht. Der rechte Sektor forderte ultimativ den Rücktritt von Präsident Janukowitsch. Noch am nächsten Tag war das Abkommen bereits Makulatur. Und Janukowitsch setzte sich ab.

Eine Revolution wie in der DDR?

Die erste Parlamentssitzung danach verabschiedete ein Gesetz zur Einschränkung der russischen Sprache. In der Ostukraine musste der Eindruck eines nationalistischen Rucks entstehen, der die Menschen dort diskriminiert. Das Gesetz trat allerdings - wohl auf Druck seitens der EU - nie in Kraft. Doch die Symbolik war in der Welt und in der Ostukraine als negatives Signal angekommen. Die Absetzung Janukowitschs sei verfassungswidrig gewesen. Niemand bestreite das. Nicht einmal Europarat und die deutsche Bundesregierung. Die Argumentation laute jedoch so: „Ich soll da mal nicht so genau sein. Es handelt sich um eine Revolution wie 1989 in der DDR.“

Die Sezession der Krim betrachtet auch Hunko als verfassungswidrig. Mit der Völkerrechtswidrigkeit hingegen „sei es etwas komplizierter“. Die meisten Völkerrechtler werten die Sezession der Krim als völkerrechtswidrig. Allerdings enthalte das Völkerrecht zwei Kriterien: Die Integrität des Staates und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Je nach politischer Konjunktur und Situation werde das Völkerrecht ausgelegt. Das eine oder das andere in den Vordergrund gestellt. „Vom Westen wird gegenwärtig die Integrität der Staaten in den Vordergrund gestellt. Vor fünfzehn Jahren war es genau umgekehrt.“ Gemeint ist die Sezession des Kosovo. Dort wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Vordergrund gestellt. Ein Referendum gab es damals nicht.

Der deutsche Völkerrechtler Reinhard Merkel bezeichnet die Sezession der Krim in einem Beitrag für die FAZ als verfassungswidrig, aber als eindeutig völkerrechtswidrig sei die Sezession der Krim nicht. Die offizielle Position der LINKEn dazu, so Hunko: „Es war völkerrechtswidrig.“

„Kette von Aktion und Reaktion“

All das, was nach diesen Ereignissen „in den folgenden Monaten passiert ist“, sei eine „Kette von Aktion und Reaktion“ gewesen. Den Regierungswechsel in Kiew nennt Hunko „meistens verfassungswidriger Umsturz“, während andere sagten: „Faschistischer Putsch“. Jedoch, hätten „faschistische Kräfte“ dabei eine Rolle gespielt. Im Osten der Ukraine führte das zu den bekannten Reaktionen „gegen den Maidan“: Große Demonstrationen, Besetzung von Amtsgebäuden u.a. im April in Lugansk und Charkow. Hunko war dort und erfuhr u.a von Bergarbeitern die Begründung dafür: „Das habt ihr ja auch beim Maidan in Kiew gemacht. Aktion – Reaktion. Die Revolte dort hätte allerdings „nicht die gleiche Bewegungsdynamik gehabt wie in Kiew auf dem Maidan.

Hunko schätzt ein, dass die Bevölkerung in Donezk und Lugansk die Besetzungen akzeptierten, aber nicht aktiv mittrugen. Als spontane Rebellion betrachtet der Bundestagsabgeordnete die Vorgänge dort nicht: „Es wurde schon von professionellen Kräften getragen.“ Auch einige Russen seien schon dabei gewesen. Womöglich auch ein paar aus Russland eingereiste. Aus der Region, „möglicherweise auch aus dem Apparat von Janukowitsch“. In relevanten Teilen der Bevölkerung habe es Sympathie für die Rebellion gegeben. Bergarbeiter fragte Hunko nach deren Motivation. Sie antworteten zumeist: „Wegen der banderistischen Regierung in Kiew“.

Der Hintergrund Stepan Bandera. Ein in der Westukraine sehr populärer Nazi-Kollaborateur im 2. Weltkrieg, „aber gleichzeitig verklärt als Freiheitskämpfer bei den Rechten in der Westukraine“. Dem Manne flicht man heute dort nicht nur verbal Kränze, sondern setzt dem Verbrecher auch Denkmäler. Hunko: „Dessen Bild stand bei den Maidan-Ereignissen in Kiew die ganze Zeit über neben der Bühne.

„Banderismus“ gilt im Osten der Ukraine als Schimpfwort. Gleichwertig mit Faschismus. Der Linke-Politiker hat die Leute in der Ostukraine ebenfalls gefragt, ob sie lieber zu Russland gehören wollten. Die Antwort: Nein, wir sind Ukrainer. Jedoch wollten sie „nicht eine solche Regierung“ in Kiew haben.

Westukraine – Ostukraine: Unterschiedliche Narrative

Völlig unterschiedliche Lebenssituationen in der West- und der Ostukraine – nicht nur ökonomisch und sozial machten halt eine Lösung der Krise schwer bis unmöglich. Der Osten ist industrialisierter und sozial entwickelter. „Der Westen ist ärmer.“ Historisch gesehen mit völlig unterschiedlichen Narrativen. Respektive unterschiedliche Geschichtsverständnisse. Es fängt an mit der Hungersnot in den Dreißigerjahren. Und dann im 2. Weltkrieg. Da bezieht sich die Ostukraine verstärkt auf die Rote Armee, den Kampf gegen den Faschismus – der Große Vaterländische Krieg eben.

Andrej Hunko erinnerte an den „Inkognito-Besuch des CIA-Chefs Brennan Mitte April in Kiew“. „Der aber aufgeflogen ist.“ Hunko: „Am Tag nach seinem Besuch hat der ukrainische Übergangspräsident die sogenannte Anti-Terror-Operation ausgerufen. Also den Einsatz der Armee gegen den Osten der Ukraine.“ Ein Zufall? Wohl kaum. Die Kategorie des Terrorismus sei bis dato neu für die Ukraine gewesen. Wahrscheinlich zurückzuführen auf eine Empfehlung des CIA.

Im Osten sei es daraufhin „zu einer teilweisen Solidarisierung mit den Separatisten gekommen“.

Wie stark die Verankerung in der Bevölkerung ist, darüber könne – meint Hunko – diskutiert werden: „Aber dass sie da ist, das ist unstrittig. Was aber im Westen zumeist geleugnet werde. Hunko: „Wenn man das leugnet, dann kann man nicht zu einer friedlichen Lösung beitragen.“ Dann werde das nur als „Intervention von Putin“ dargestellt. Dass die ostukrainische Bevölkerung aber zu relevanten Teilen zu den Separatisten steht, müsse einfach zur Kenntnis genommen werden.

Die russische Unterstützung auch mit russischen Kämpfern habe es zweifelsohne gegeben. Allerdings nicht regulär als Armee. Hunko gegenüber haben die Kämpfer ihre Beteiligung stets als „privat“ angegeben. Sie wollten ihren ukrainischen Brüdern beistehen.

Das Massaker als das bedeutendstes Ereignis

Infolgedessen sei es zu bedeutenden Ereignissen bekommen. Das bedeutendste sei das Massaker von Odessa am 2. Mai gewesen. Dessen höchstwahrscheinliches Ziel: Einschüchterung der Protesten in der Ostukraine.

In der Region hatte ein Fußballspiel stattgefunden. „Es gab eine Vermischung der Hooligans mit Teilen des Maidans, der Maidan-Bewegung. Und vor allem vom Rechten Sektor.“ Die haben in Odessa eine Demonstration für die nationale Einheit der Ukraine durchgeführt. Diese Demonstration wurde von Gegendemonstranten, die im Westen immer als „prorussisch“ dargestellt werden, angegriffen. Die Gegendemonstranten verstanden sich teilweise als antifaschistisch und sagten: „Wir halten Odessa sauber von diesen Hooligans.“ Diese Demonstranten wiederum waren angegriffen worden. Ungeklärt sei wie weit da Provokateure im Spiel gewesen seien. Es sei zu Schüssen gekommen. Die Maidan-Seite habe dann die Anti-Maidan-Demonstranten auf den Platz vor dem Gewerkschaftshaus getrieben. Deren Zelt, wo man Stimmen für ein Referendum sammelte, sei angezündet worden. Viele der Angegriffenen, mehrere hundert Leute waren dann in das „riesige Gewerkschaftshaus“ hineingetrieben worden. Das Haus wurde in Brand gesetzt. Leute in den Kellern seien erschossen worden. Auch Gas wurde eingesetzt. „Die Leute sind also durch Brand und durch Gas sowie Schüsse ums Leben gestorben.“

„Alle Opfer“, davon künde inzwischen eine am Haus angebrachte Tafel, „waren Bürger von Odessa.“

Das Schlimme, gab Andrej Hunko zu bedenken, sei, dass das Massaker wie die Todesschüsse auf dem Maidan im Februar bis dato nicht aufgeklärt sind. „Es legt sich ein Mantel des Schweigens über die Ereignisse.“

Die UN nennt das Massaker Tragödie, andere sprächen von einer Brandkatastrophe. Hunko: „Das sind ja Begriffe ohne Täter.“ Es höre sich an, als sei von einer Naturkatastrophe wie etwa von einem Erdbeben die Rede. Diverse Untersuchungskommissionen in Odessa sind unterdessen alle aufgelöst.

Fazit

Nach den Parlamentswahlen vom 26. September tue man im Westen so als sei nun alles gut. Die rechten Parteien, wie Swoboda, haben ja auch nur wenige Prozente erhalten. Doch Andrej Hunko sieht das differenzierter. Das zentrale Projekt in der Ukraine sei nämlich längst nicht mehr Swoboda. Viele der Rechten seien auf der Liste von Jazenjiuk angetreten. Die Strategie der Rechten wäre längst eine andere. „Die Verharmlosung der Rechten, deren Einfluss sei verschwunden“, so Hunko entschieden, „kann ich überhaupt nicht teilen.“

Auch nach der Wahl rechnet Andrej Hunko damit, dass die Eskalation weiter geht. Immerhin hätten 5 Millionen Menschen nicht gewählt. Darunter 1,8 Millionen Wahlberechtigte auf der Krim. Es gab sogar ein paar Wahlstationen für Ukrainer in Russland. 3600 Menschen nur hätten davon Gebrauch gemacht.

In den von den Separatisten kontrollierten Gebieten Donezk und Lugansk haben 3 Millionen Menschen nicht wählen können. In Odessa, wo Andrej Hunko als Wahlbeobachter war, habe die Wahlbeteiligung nur 39,5 Prozent betragen. „Während sie im Mai bei der Präsidentschaftswahl noch bei 50 Prozent gelegen hatte.“

Es habe „ein großer Entfremdungsprozess stattgefunden, von der Regierung in Kiew. Das deute auf eine Vertiefung der Kluft zwischen West- und Ostukraine einerseits und der Südostukraine andererseits hin. Welche Rolle spielte der Westen, welche Russland bei der Eskalation der Ukraine-Krise? Dass nach westlicher Lesart ausschließlich Putin der Aggressor sei, sei freilich eine Legende.

Auch in der USA fände eine kritische Debatte statt. So sieht etwa der Politikwissenschaftler John Mearsheimer, der beileibe kein Linker sei, in einem Artikel für „Foreign Affairs“ (Why the Ukraine Crisis Is the West's Foult“) - hier ein Artikel dazu in der Münchner Abendzeitung – die Hauptschuld für die Eskalation beim Westen.

Mearsheimer: „Die USA und ihre westlichen Verbündeten stehen in der Ukraine-Frage vor einer Entscheidung. Sie können ihre aktuelle Politik fortführen und so die Feindseligkeit mit Russland verschärfen und die Ukraine zugrunde richten. Ein Szenario aus dem alle Beteiligten als Verlierer hervorgehen würden. Oder sie können umsteuern und eine wohlhabende aber neutrale Ukraine anstreben, die keine Bedrohung für Russland darstellt und es dem Westen erlaubt die Beziehungen zu Moskau zu kitten. Mit einem solchen Ansatz würden alle Seiten gewinnen.“

Nur nach einer solchen, den Ukraine-Konflikt gewiss befriedenden Lösung, ist jedoch leider kaum zu rechnen. Auf meine Frage an den Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, ob denn seiner Meinung nach eine Stabilisierung der Ukraine in Aussicht ist, bzw. eine Föderalisierung der Ukraine nicht eine dahingehende Möglichkeit darstelle, verneinte er den ersten Teil der Frage. Und zwar mit Verweis auf die momentan völlig vertrackte Situation. Die Föderalisierung, beschied er mir, verhieße mit Sicherheit eine Chance auf Stabilität. „Doch welche Kräfte sollte diese momentan ins Werk setzen?“

Andrej Hunko nannte die Vorstellungen der Menschen in der Westukraine von den Aussichten her, welche sie hinsichtlich der EU haben, „äußerst illusorisch“. Des Weiteren prophezeit er den Menschen in der Ukraine ein böses Erwachen. Auf sie dürften nämlich sehr bald schon extreme Kürzungen und Belastungen zukommen. Das Land ist ja faktisch pleite. Nicht umsonst, so mutmaßt Andrej Hunko, habe Poroschenko die Wahlen so zeitig abgehalten. Keine guten Aussichten also ...

Selten hat man eine so ausgewogene, ideologiefreie und aus eigenem Erleben kenntnisreiche Schilderung der Lage in der Ukraine erlebt. Wie durch Andrej Hunko beim politischen Frühschoppen im Linke-Zentrum in Oberhausen. Ansonsten kann ich diesbezüglich eigentlich nur noch die Reportagen des ORF-Korrespondenten Christian Ferdinand Wehrschütz, der dieser Tage wieder in der Ukraine und vor Ort ist, empfehlen.

Andrej Hunko wird übrigens demnächst in die Ostukraine reisen. Tun muss er das über Russland. Auf die Berichte darf man gespannt sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

asansörpress35

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden