In Berlin bin ich zu Hause, habe ich meine Freunde, vielleicht auch in Klagenfurt, wo ich jedes Jahr ein paar Wochen arbeite. Aufgewachsen aber bin ich in Fredersdorf, einem Vorort Berlins. Hier liegt meine Alzheimat – der Ort meiner Kindheit: Enge, Suff und Prügel. Und lange her.
Mein Uropa war hier Friseur
Die Gräber meiner Eltern sind hier, ebenso die der Großeltern mütterlicherseits. Mein Uropa Robert hatte in der Platanenstraße ein Friseurgeschäft. Ein paar Häuser weiter ist meine leibliche Großmutter in den Tod gesprungen. Warum, weiß niemand. Nur dass bei Kriegsende auch andere Frauen ihrem Leben ein Ende gesetzt haben. Die Rote Armee hatte in der gleichen Straße ihr Quartier – im „Russenschloss“, wie das Gemäuer später als Ruine hieß. Über mehr wurde nie gesprochen.
Im brandenburgischen Fredersdorf reden die Leute viel, aber weniger miteinander. Und wie überall im Osten erbt meine Generation von ihren Eltern kaum Besitz, dafür aber die Traumata.
Die heutige Doppelgemeinde Fredersdorf-Vogelsdorf war lange Zeit eine verschlafene Ortschaft. Aber es war kein erholsamer Schlaf, eher eine Art Koma. Dazu noch die Brüche der Wiedervereinigung, der Globalisierung und der Digitalisierung – kein Wunder also, dass manche der heute rund 14.000 Einwohner ein wenig eigen sind.
Juhnke und Plenzdorf
Harald Juhnke und Ulrich Plenzdorf haben hier ihren Lebensabend verbracht. Die Radrennbahn Fredersdorf hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Die Siegessäule in Berlin soll ein Fredersdorfer errichtet haben: der Fabrikant Carl Gottlob Bohm. Außerdem gab es hier noch etliche Kneipen und an der Bahnschranke ein Kino, wo am Sonntagvormittag für uns Kinder Der kleine Muck (der Freitag 32/2023) lief und Das singende, klingende Bäumchen. Inzwischen hat dort eine Spielbank ihre Adresse. Die Bibliothek gibt es noch, sie ist in die Waldstraße umgezogen; ich habe immer noch Heinrich Böll ausgeliehen, die Erzählungen, Mein trauriges Gesicht. Rückgabetermin war der 25. August 1988, das wird teuer.
Der Ort meiner Kindheit aber existiert nicht mehr. Vom Mühlenfließ, in dem ich mit selbstgebautem Kescher – die Strumpfhose meiner Mutter – Krebse gefangen habe, die ich an meinen Vater verhökerte, für eine Mark das Stück, ist heute noch das Flussbett geblieben, ausgetrocknet. Das Grundwasser ist gesunken; die Feuchtwiesen sind weg, die Frösche auch und damit die Störche. Fredersdorf ohne Fließ, ohne Flora und ohne Fauna.
Der irrationale AfD-Trend
Den Menschen, viele sind zugezogen, geht es gut. In Fredersdorf gibt es kaum materielle Armut. Keine Ausländer, schon gar keine Flüchtlinge. Dennoch wählen mehr und mehr Leute AfD. Dieser irrationale Zorn ist das große Rätsel. Wenn der Trend anhält, werden die Nazis in Ostdeutschland demnächst mehr Rathäuser und Landratsämter übernehmen. So weit aber ist es in Fredersdorf noch nicht, denn wie schon Friedrich Hölderlin sagt: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“
Unser alter Nachbar Stephan Henf, 56, tritt bei der Bürgermeisterwahl am 24. September als Kandidat an! Er ist bodenständig und warmherzig (wie sein Onkel Rudi, der mir immer Kaninchen geschenkt hat, aber das nur nebenbei). Unterstützt wird Henf von der freien Wählergruppe W.I.R.! Der diplomierte Volkswirt arbeitet als Vermögensmanager eines ostdeutschen Unternehmens. Er ist kein Wutbürger, sondern Protestant und organisierte in der Vergangenheit die Kirchentage mit. Und noch weiter zurück gehörte mein Freund Stephan zu jenen Bürgerbewegten, die im Mai 89 den Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen öffentlich machten, auch in Fredersdorf beziehungsweise im Kreis Strausberg. Für seine Kandidatur in einer Demokratie hat er also mehr getan als andere. Die Frösche und Krebse wird Bürgermeister Henf nicht zurückbringen, aber bestimmt einen guten Job machen.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.