Auf den ersten Blick wirkt der Vertrag von Aachen wie ein vertrautes Ritual zur Beschwörung und Beweihräucherung der deutsch-französischen Freundschaft und unionseuropäischen Kooperation. Angesichts des sich anbahnenden Brexits und der bevorstehenden Europawahlen sendet er ein beruhigendes Signal der Selbstvergewisserung: Seht her, es geht auch anders, der deutsch-französische Motor und Europa halten zusammen! So oder so ähnlich wird die Botschaft überwiegend aufgenommen. Zurecht. Doch selten wird ein Vertrag so freundlich beklatscht und zugleich unterschätzt.
Denn der traité d’Aix-la-Chapelle hat es in sich. Setzt man die Auffrischung des Elysée-Vertrages in den größeren historischen Kontext, tritt seine geopolitische Tragweite zutage. Vor 56 Jahre hat Adenauer den Versuchungen de Gaulles erfolgreich widerstanden, die deutsch-französische Freundschaft in den Dienst europäischer Emanzipationsbestrebungen zu stellen. Sein klares Bekenntnis zur Westbindung im Sinne eines Vorrangs der transatlantischen Allianz sollte die sicherheits- und verteidigungspolitische Ausrichtung der Bundesrepublik für ein halbes Jahrhundert bestimmen.
Die mit dieser Westbindung einhergehende geopolitische Sicht auf Europa hat die außenpolitische Weltanschauung Deutschlands stets von der französischen getrennt. De Gaulle, der trotz aller Rückschläge und Demütigungen im zweiten Weltkrieg Frankreich als Siegermacht positionierte und nonchalant einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sicherte, wollte einen unabhängigen europäischen Kontinent unter französischer Ägide. Damit sollte die Strahlkraft der grande nation über die Erschütterungen hinweg in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gerettet und die Vereinigten Staaten aus Europa herausgehalten werden.
Seit spätestens den 70er Jahren herrscht im Elysée die Einsicht, dass sich Frankreich seine europäische Führungsrolle mit Deutschland gleichberechtigt teilen muss. Den eigenen diplomatischen und militärischen Vorteil sah man durch die wachsende ökonomische Stärke Deutschlands ausgeglichen. Vom Grundanspruch einer Emanzipation Europas aber hat die französische Außenpolitik nie abgelassen. Erst nach langem Widerstand und in Sorge wegen der engen anglo-amerikanischen Beziehungen akzeptierte Frankreich 1972 den Beitritt Großbritanniens in die Europäische Union. Die Pariser Abneigung gegen die amerikanische Übermacht führte früh zum Austritt aus der NATO. Erst 2009 und unter Ausschluss des eigenen Nukleardispositivs trat Frankreich dem Militärbündnis wieder bei.
Nur vor dieser historischen Folie des Schismas deutscher und französischer Bündnispolitik nach dem Zweiten Weltkrieg wird deutlich, in welch atemberaubenden Tempo diese Kluft seit dem 20.01.2017 geschlossen wird. Die Bierzeltrede der Kanzlerin Ende Mai 2017, in der sie die Verlässlichkeit der Vereinigten Staaten in Frage stellte und erklärte, dass die Europäer ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssten, läutete vor allem auf deutscher Seite einen Paradigmenwechsel ein. Bemerkt und diskutiert wurde dies vor allem in den Vereinigten Staaten.
Am wenigsten kam davon im Verteidigungsministerium an. Während Bendlerblock und von der Leyen in geradezu grotesker Weise in NATO-Nostalgie verharren, bereiteten Werderscher Markt und Quai d’Orsay mit dem Vertrag von Aachen in glasklaren Worten den Boden für eine sicherheits- und geopolitische Alternative. Die wegbröckelnde Verlässlichkeit der Vereinigten Staaten und NATO wird durch eine deutsch-französische militärische Beistandsverpflichtung kompensiert. So schafft der neue Freundschaftsvertrag ein vom transatlantischen Bündnis unabhängiges Netz und begründet eine robuste kontinentaleuropäische Verteidigungsallianz. Damit sagen Frankreich und Deutschland dem transatlantischen Primat in der europäischen Sicherheitspolitik sanft adieu.
Welchen Preis musste der überzeugte Europäer Macron für die Erfüllung des gaullistischen Traums bezahlen? En échange wird der Aufstieg Deutschlands zum permanenten Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zur Priorität deutsch-französischer Diplomatie erklärt. Einfluss und Unabhängigkeit Kontinentaleuropas sollen künftig mit zwei ständigen Sitzen im höchsten Exekutivgremium der Weltgemeinschaft abgesichert werden.
Dass sich die deutsche Diplomatie qua Vertrag der geo- und sicherheitspolitischen Strategie Frankreichs für ein von den USA unabhängiges Europa anschließt und im Gegenzug Frankreichs diplomatisches Korps in den Dienst der deutschen Sicherheitsratsambitionen gestellt wird, gehört zu den weitreichendsten Erneuerungen des Vertrages von Aachen. Unterzeichnet wurden sie in jener Stadt, die einst Machtzentrum eines Reiches war, das weite Teile des heutigen Frankreichs und Deutschlands umfasste. Einen geschichtsträchtigeren Ort hätte man kaum wählen können für die einende Loslösung Europas von den Vereinigten Staaten von Amerika.
Kommentare 15
Getrennt marschieren - geeint schlagen. Das ist unsere Kriegspolitik, einerlei ob an der Seite der NATO oder Frankreich. Deutschland übernimmt Verantwortung. Verantwortung für Krieg, Elend und Völkerwanderungen, einschließlich Umweltkatastrophen. Was ist das für eine "Wertegemeinschaft". Pfui!
Vom ständigen Sitz im UN Sicherheitsrat kann Deutschland noch lange träumen.
Es wird ihn nicht geben. Warum sollen die derzeitigen Mitglieder einschließlich Frankreich so etwas befürworten? Da hätte Indien als Atommacht schon eher einen Anspruch. Dass sich die französische Außenpolitik tatsächlich geändert hat, wäre dann glaubhaft, wenn Macron sich für einen Sitz der EU im UN Sicherheitsrat einsetzen und dafür den französischen Sitz aufgeben würde.
Zu fragen wäre zudem, ob ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat überhaupt noch erstrebenswert ist. In Zeiten von Egomanen wie Trump und Putin ist der Rat doch zu einer Schwatzbude verkommen, der zu keinem der bestehenden Konflikte noch irgendeine Lösung beisteuert.
Scheint so, dass die beiden Staatslenker meinen: "Beide Staaten werden laut Vertrag im militärischen Bereich Europas Leistungsfähigkeit und Kohärenz weiter entwickeln."Man stelle sich nur vor, hier würde stehen: "Beide Staaten werden laut Vertrag im Bereich 'Zivil- und Katastrophenschutz' Europas Leistungsfähigkeit und Kohärenz weiter entwickeln. Die Welt würde sich wundern ...
>>So schafft der neue Freundschaftsvertrag ein vom transatlantischen Bündnis unabhängiges Netz und begründet eine robuste kontinentaleuropäische Verteidigungsallianz.<<
Natürlich wieder ohne zu sagen, gegen welche Angreifer man sich verteidigen will. Macron wahrscheinlich gegen die Gilets Jaunes. Und Merkel? Gegen die Lobbyisten der Rüstungsindustrie? Das wäre mal ein Nutzen, der Schaden vom Volk wendet.
>>Man stelle sich nur vor, hier würde stehen: "Beide Staaten werden laut Vertrag im Bereich 'Zivil- und Katastrophenschutz' Europas Leistungsfähigkeit und Kohärenz weiter entwickeln. Die Welt würde sich wundern ...<<
Sich wundern und fragen: "Woher nehmen die bloss das Geld dafür?!"
>>...aber nur 6 (!) einsatzfähige Kampfpanzer vorhanden waren,...<<
Offenbar genügt das ja, oder sind die baltischen Staaten wegen Panzermangel angegriffen worden?
Wir sollten zuerst erst klären, ob jemand ein Motiv zum Angriff hat,* und falls ja, ob solche potentiellen Angreifer kostengünstig mit nichtmilitärischen Mitteln vom Angriff abgehalten werden können. Falls die nichtmilitärische Option die günstigere ist, können die dort vergeudeten Ressourcen nützlicher eingesetzt werden und wir haben keinen Grund, uns über Rüstungsmängel zu beschweren.
*Ein Beispiel: ob ein Erdgaslieferant Interesse daran hat seine Kunden plattzumachen.
sicherheit beruht auf belastungs-fähigen absprachen kollektiver
verteidigungs-pakte.
wenn ein kleines baltisches land unter druck gerät,
müssen alle nato-partner bereit sein, dem druck
diplomatisch, ökonomisch, militärisch zu widerstehen.
s.o.
>>...können die dort vergeudeten Ressourcen nützlicher eingesetzt werden...<<
Das ist missverständlich. Gemeint ist: "...können die für militärische Hochrüstung vergeudeten Ressourcen nützlicher eingesetzt werden..."
„*Ein Beispiel: ob ein Erdgaslieferant Interesse daran hat seine Kunden plattzumachen.“
Das wäre ja ein Superbeispiel dafür, dass man den Kapitalismus möglichst ausbauen sollte, wenn es stimmt, dass dort, wo Geschäftsbeziehungen herrschen, kein Krieg stattfindet. Leider ist das historisch nicht zu halten und Krieger haben oft eine ganz andere Mentalität und Denkweise.
Es ist nett, aber falsch zu denken, dass alle so funktionieren wie man selbst tickt oder wie man es sich vorstellt. Es gibt auch Menschen, die den Raub oder die Besetzung als die einfachere Form ansehen Geld, Land und Einfluss zu bekommen und denen Verträge ganz einfach egal sind.
Dann gibt es Menschen, die ihre Macht gerne anlasslos demonstrieren: Weil sie es können. In ein kommunistisches Weltbild passen Menschen die aggressiv sind, weil sie aggressiv sind, schlecht hinein, weil die Konstrukte des Kommunismus eher vom grundguten Menschen ausgehen, der dann schlecht gemacht wird, durch Eigentumsverhältnisse, so zumindest die kommunistische Folklore. Das ist aber nur in so geringen Teilen richtig, dass man es als falsch bezeichnen darf und im saturierten Westen (die 10% der Ärmsten bei uns, gehören noch immer zu den 10% der Reichsten auf der Welt) kann man sich nicht vorstellen, dass es Traditionen gibt, für die Kampf das Grundprinzip ihres Lebens ist und die keine Gründe brauchen, um anderen zu zeigen, dass sie sie dominieren können, sondern nur Gelegenheiten.
Darin liegt auch ein kapitaler Fehler einer verharmlosenden Sicht von Pluralisten und Linken, die meinen, das diejenigen, zu denen man nett ist, einen automatisch mögen werden und müssen. Wenn man es selbst nicht böse meint, gibt es auch niemand anderen mehr, der das tut. Dass man die Netten für Trottel hält, mit denen man im Zweifel tun und lassen kann, was man will, ist in vielen Weltbildern gar nicht vorgesehen.
Das heißt nun wiederum nicht, dass alle Welt immer nur schlecht und aggressiv bis zum Sadismus wäre, nein, im Gegenteil, es geht auch anders, wir sind in der glücklichen Lage das seit Jahrzehnten zu erleben, mit allen Abstrichen und Unwuchten und oft auch dringend notwendigen Verbesserungen. Nur sollte man wissen, wann Menschen dazu neigen sich in Richtung lebenslanger Aggression oder projizierter Aggression (chronisches Misstrauen) zu entwickeln und wann das eher nicht der Fall ist. Und das es immer noch welche gibt und noch lange geben wird. Die offene Flanke der Linken, die davon nicht nur keine Ahnung hat, sondern alles wegbeißt, was nicht in ihr enges Weltbild passt.
Aber sich mal gelegentlich drum zu kümmern, dass man die, die man sich schön reden zu müssen meint, auch weniger verklärt betrachten kann, ist vielleicht gar nicht so dumm. Dass es Menschen gibt, deren Lebensansatz und Weltsicht vollkommen anders ist, als die eigene, kann man heute auch wissen.
Habe jetzt Deine Zeilen als Aufhänger genommen, weil sie typisch sind, ohne es allzu sehr persönlich zu meinen.
>>Das wäre ja ein Superbeispiel dafür, dass man den Kapitalismus möglichst ausbauen sollte,…<<
Handel, oder sagen wir einfach Warentausch, setzt nicht zwingend privaten Profit voraus.
Ausserdem beleuchtet mein Beispiel nur einen Aspekt friedlicher Koexistenz.
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>>Es gibt auch Menschen, die den Raub oder die Besetzung als die einfachere Form ansehen…<<
Soweit es um Rohstoffe geht, ist das so. Ich habe den Verdacht, dass Einige hier die Eroberung russischer Rohstoffquellen noch nicht aufgegeben haben. Die dortigen „Untermenschen“ würde man als Billigstarbeiter einsetzen, wie in den afrikanischen Coltan- und Kupferminen und den Ölpalmen- und Kakaoplantagen.
Was aber hätte Russland mit der kriegerischen Eroberung von Mitteleuropa zu gewinnen? Ich denke, für Gasprom ist es günstiger, zum Beispiel die Fa. Linde mit der Erstellung von Gasdestillationsanlagen zu beauftragen und anschliessend das herausdestillierte Helium an Linde zu verkaufen. Einen kriegszerstörten Linde-Betrieb wieder aufbauen zu müssen wäre die eindeutig schlechtere Option, ob kapitalistisch oder nicht. Und nach einem Krieg alles kaputt zu lassen bringt ja auch nichts, das wäre höchstens vorteilhaft, wenn man Konkurrent loswerden will und das Land als „Markt“ uninteressant ist.
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>>Darin liegt auch ein kapitaler Fehler einer verharmlosenden Sicht von Pluralisten und Linken, die meinen, das diejenigen, zu denen man nett ist, einen automatisch mögen werden und müssen.<<
Mag sein. Ich versuche es eher mit der „cui bono“ - Frage. Scheint mir zielführender, gerade unter kapitalistischen Verhältnissen.
„Was aber hätte Russland mit der kriegerischen Eroberung von Mitteleuropa zu gewinnen?“
Da würde ich mich einfach mal fragen, ob man in Russland selbst schon die Ideen eines eurasischen Großreiches aufgegeben hat. Und dann recherchieren.
„Mag sein. Ich versuche es eher mit der „cui bono“ - Frage. Scheint mir zielführender, gerade unter kapitalistischen Verhältnissen.“
Wer sagt, dass es diese Verhältnisse immer geben wird? Die Idee ist, dass es auch Menschen gibt, die generell kein größeres Interesse daran haben, zu einer kooperativen Lösung zu kommen. Das heißt nicht, dass man nicht zwischendurch auch mal kooperiert oder so tut, es dann auch mal wieder lässt, a sagt und b tut. Tun viele ein Stück weit, aber warum Verträge einhalten wenn man stärker oder gerissener ist? Warum mit denen Verträge eingehen, die man für Feinde hält und deren Lebensweise man entweder verachtet oder offiziell meint, als verachtenswert instrumentalisieren zu müssen, aus politischer Taktik?, bei der es oft um eine Ablenkung von innenpolitischen Problemen geht. Die Gefahr bei dem Spiel ist, dass selbst dann, wenn man von oben nur so tut als ob, man irgendwann liefern muss und nicht als Pussie dazustehen.
So Ende von mir zu dem Thema, die glühende Liebe zum roten Bruder gehört zur DNA größerer dfc Teile, da ist nichts zu machen.
ihr verdacht ist so alt wie abwegig.
russische rohstoffe müssen erstmal auf-wändig gefördert
und transportiert werden: da läßt sich viel kapital versenken!
ihr weltbild beschreibt eine sicht aus den 30er jahren.
und die war schon damals: von gestern.
>>Da würde ich mich einfach mal fragen, ob man in Russland selbst schon die Ideen eines eurasischen Großreiches aufgegeben hat.<<
Bonaparte ist tot. Wilhelm der Letzte ist tot, nur der Gröfaz nistet noch in manchen Köpfen.
Nee, mal im Ernst: Mit „eurasische Wirtschaftsunion“ ist vor Allem die Zollunion ehemaliger Sowjetrepubliken mit Russland gemeint. Dass da Russland dominiert ist schon so, hat aber nichts mit Mitteleuropa zu tun. Ansonsten orientiert sich russische Politik und damit auch die „eurasische Union“ sehr stark zum „RICS“-Wirtschaftsblock (Russland/Indien/China/Südafrika)*, der neuen kapitalistischen Weltmacht. Das peu à peu - Aufkaufen europäischer Firmen überlassen die Russen offenbar den Chinesen, sie konzentrieren sich mehr auf Rohstoff-Förderung und Grundstoffindustrie. Der RICS - Block als Ganzes ist annähernd rohstoffautark, nur dass die Chinesen versuchen, Landwirtschaftsfläche ausserhalb von China unter ihre Kontrolle zu bringen. Dadurch könnte es in der Zukunft zu Konflikten zwischen europäischen und chinesischen Kapitalisten in Afrika kommen, aber wenn erst mal die europäischen Konzerne weitgehend in chinesischem Besitz sind hat sich das auch erledigt.
*vor Kurzem noch „BRICS“, Brasilien/Russland/Indien/China/Südafrika, aber mit Bolsonaro ist Brasilien ja wieder US-Hinterhof.
Schon klar, auch wenn die Förderung der Rohstoffe ja schon lange läuft. Ich sage nicht, dass solche Eroberungsphantasien umsetzbar sind.