Die einende Loslösung

Vertrag von Aachen Frankreich und Deutschland sagen dem transatlantischen Primat sanft adieu

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Bild einer gemeinsamen Loslösung
Bild einer gemeinsamen Loslösung

Foto: Ludovic Marin/AFP/Getty Images

Auf den ersten Blick wirkt der Vertrag von Aachen wie ein vertrautes Ritual zur Beschwörung und Beweihräucherung der deutsch-französischen Freundschaft und unionseuropäischen Kooperation. Angesichts des sich anbahnenden Brexits und der bevorstehenden Europawahlen sendet er ein beruhigendes Signal der Selbstvergewisserung: Seht her, es geht auch anders, der deutsch-französische Motor und Europa halten zusammen! So oder so ähnlich wird die Botschaft überwiegend aufgenommen. Zurecht. Doch selten wird ein Vertrag so freundlich beklatscht und zugleich unterschätzt.

Denn der traité d’Aix-la-Chapelle hat es in sich. Setzt man die Auffrischung des Elysée-Vertrages in den größeren historischen Kontext, tritt seine geopolitische Tragweite zutage. Vor 56 Jahre hat Adenauer den Versuchungen de Gaulles erfolgreich widerstanden, die deutsch-französische Freundschaft in den Dienst europäischer Emanzipationsbestrebungen zu stellen. Sein klares Bekenntnis zur Westbindung im Sinne eines Vorrangs der transatlantischen Allianz sollte die sicherheits- und verteidigungspolitische Ausrichtung der Bundesrepublik für ein halbes Jahrhundert bestimmen.

Die mit dieser Westbindung einhergehende geopolitische Sicht auf Europa hat die außenpolitische Weltanschauung Deutschlands stets von der französischen getrennt. De Gaulle, der trotz aller Rückschläge und Demütigungen im zweiten Weltkrieg Frankreich als Siegermacht positionierte und nonchalant einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sicherte, wollte einen unabhängigen europäischen Kontinent unter französischer Ägide. Damit sollte die Strahlkraft der grande nation über die Erschütterungen hinweg in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gerettet und die Vereinigten Staaten aus Europa herausgehalten werden.

Seit spätestens den 70er Jahren herrscht im Elysée die Einsicht, dass sich Frankreich seine europäische Führungsrolle mit Deutschland gleichberechtigt teilen muss. Den eigenen diplomatischen und militärischen Vorteil sah man durch die wachsende ökonomische Stärke Deutschlands ausgeglichen. Vom Grundanspruch einer Emanzipation Europas aber hat die französische Außenpolitik nie abgelassen. Erst nach langem Widerstand und in Sorge wegen der engen anglo-amerikanischen Beziehungen akzeptierte Frankreich 1972 den Beitritt Großbritanniens in die Europäische Union. Die Pariser Abneigung gegen die amerikanische Übermacht führte früh zum Austritt aus der NATO. Erst 2009 und unter Ausschluss des eigenen Nukleardispositivs trat Frankreich dem Militärbündnis wieder bei.

Nur vor dieser historischen Folie des Schismas deutscher und französischer Bündnispolitik nach dem Zweiten Weltkrieg wird deutlich, in welch atemberaubenden Tempo diese Kluft seit dem 20.01.2017 geschlossen wird. Die Bierzeltrede der Kanzlerin Ende Mai 2017, in der sie die Verlässlichkeit der Vereinigten Staaten in Frage stellte und erklärte, dass die Europäer ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen müssten, läutete vor allem auf deutscher Seite einen Paradigmenwechsel ein. Bemerkt und diskutiert wurde dies vor allem in den Vereinigten Staaten.

Am wenigsten kam davon im Verteidigungsministerium an. Während Bendlerblock und von der Leyen in geradezu grotesker Weise in NATO-Nostalgie verharren, bereiteten Werderscher Markt und Quai d’Orsay mit dem Vertrag von Aachen in glasklaren Worten den Boden für eine sicherheits- und geopolitische Alternative. Die wegbröckelnde Verlässlichkeit der Vereinigten Staaten und NATO wird durch eine deutsch-französische militärische Beistandsverpflichtung kompensiert. So schafft der neue Freundschaftsvertrag ein vom transatlantischen Bündnis unabhängiges Netz und begründet eine robuste kontinentaleuropäische Verteidigungsallianz. Damit sagen Frankreich und Deutschland dem transatlantischen Primat in der europäischen Sicherheitspolitik sanft adieu.

Welchen Preis musste der überzeugte Europäer Macron für die Erfüllung des gaullistischen Traums bezahlen? En échange wird der Aufstieg Deutschlands zum permanenten Mitglied des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zur Priorität deutsch-französischer Diplomatie erklärt. Einfluss und Unabhängigkeit Kontinentaleuropas sollen künftig mit zwei ständigen Sitzen im höchsten Exekutivgremium der Weltgemeinschaft abgesichert werden.

Dass sich die deutsche Diplomatie qua Vertrag der geo- und sicherheitspolitischen Strategie Frankreichs für ein von den USA unabhängiges Europa anschließt und im Gegenzug Frankreichs diplomatisches Korps in den Dienst der deutschen Sicherheitsratsambitionen gestellt wird, gehört zu den weitreichendsten Erneuerungen des Vertrages von Aachen. Unterzeichnet wurden sie in jener Stadt, die einst Machtzentrum eines Reiches war, das weite Teile des heutigen Frankreichs und Deutschlands umfasste. Einen geschichtsträchtigeren Ort hätte man kaum wählen können für die einende Loslösung Europas von den Vereinigten Staaten von Amerika.

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