Tourismus: Flugscham war gestern, jetzt sind „Rachereisen“ angesagt

Kolumne In 50 verschiedenen Ländern gewesen zu sein als Selbstgeschenk zum 30. Geburtstag: Das Reisen boomt, die Ausgaben der Deutschen dafür steigen. Dahinter steckt ein neues Phänomen, das mit Corona zu tun hat
Ausgabe 34/2023
Mit „Rachereisen“ wollen die Amerikaner die Zeit besiegen
Mit „Rachereisen“ wollen die Amerikaner die Zeit besiegen

Forst und Wüste

Svenja Beller ist freie Journalistin und Buchautorin. Für den Freitag schreibt sie die Kolumne „Forst und Wüste“ über Klimapolitik, Umweltschutz und was sonst noch alles schief geht.

Um das gleich vorwegzunehmen: Ich schreibe diesen Text auf einer Insel, die sehr weit weg ist, zu der ich also sehr lange geflogen bin, wobei ich folglich die Atmosphäre gemeinsam mit den anderen Fluggästen mit sehr viel CO₂ belastete. Ich kompensiere meinen Flug, bin mir aber sehr wohl im Klaren, dass wir uns nicht einfach aus der Verantwortung kaufen können, auf dass etwas oder jemand anders klimafreundlicher wird, damit wir selbst es nicht werden müssen.

Ich bin auf diese Insel gekommen, um über die Folgen der globalen Erwärmung zu berichten und um hier Menschen zu treffen, die versuchen, diese einzudämmen. Und ich hoffe, dass der positive Effekt meiner Berichterstattung den negativen Effekt meiner An- und Abreise überwiegt.

Ich werde vermutlich nie erfahren, ob es so ist, ich leide also unter Flugscham, einem – wie ich dachte – äußerst zeitgenössischen Phänomen.

Beim Tauchen spricht es eine Amerikanerin aus

Kurzum, ich dachte, das schlechte Gewissen hätte endlich in den Flugreisetourismus Einzug gehalten. Bis ich hier einen neuen Begriff lernte: „Revenge Travel“, zu Deutsch: Rachereisen. Ich hörte ihn aus dem Mund einer Amerikanerin, die ich auf einem Tauchboot kennenlernte – meine Recherche beschäftigt sich mit der sterbenden Unterwasserwelt –, und während mir nach dem Tauchgang zum Weinen zumute war, sprach sie diesen Begriff vor mir aus: „Revenge Travel“.

Das bezeichnet ein Phänomen, das schon letztes Jahr Fahrt aufgenommen hat, als die Pandemie-Restriktionen heruntergefahren und die Menschen wieder herausgelassen wurden aus ihren heimischen Käfigen. Die Menschen nehmen seither Rache für die verlorene Zeit, die sie mit Serien-Marathons, Telefonkonferenzen und dem Erlernen und Verwerfen von Sauerteigbrotbacken herumgebracht haben. Sie nehmen Rache, indem sie umso mehr reisen.

Zwischen Kalifornien und der Welt jetten

Von November 2021 bis Ende Oktober 2022 verdoppelten sich allein die deutschen Ausgaben für Reisen von 28,8 Milliarden auf 58,6 Milliarden Euro. Für dieses Jahr erwartet der Deutsche Reiseverband noch mehr.

Auf der Insel, auf der ich diese Zeilen schreibe, habe ich mehrere Familien getroffen, die Weltreisen oder halbe Weltreisen unternehmen. Eine von ihnen jettete zwischendurch ein paarmal zurück nach Hause, nach Kalifornien, geht ja alles. Ich traf eine junge Australierin, die es sich zum Ziel gesetzt hat, bis zu ihrem 30. Geburtstag 50 Länder „gemacht“ zu haben, wie man im Englischen sagt, weil sie die Zahl so schön findet.

Und ich sah, welche Rache die Natur für diese „Rachereisen“ an uns nehmen wird. Glauben Sie mir: Sie wird grässlich sein.

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