Israel: Eine Mehrheit will keine erneute Besetzung des Gazastreifens

Meinungswandel Viele Israelis fragen sich, welche Exit-Strategie ihre Regierung verfolgt und ob sie überhaupt eine hat. Derzeit sind nur 46 Prozent für ein Besatzungsregime im Gazastreifen, wie es das schon zwischen 1967 und 2005 für Jahrzehnte gab
Ausgabe 44/2023
Ein Junge in den Ruinen von Gaza-Stadt
Ein Junge in den Ruinen von Gaza-Stadt

Foto: Omar El-Qattaa/AFP via Getty Images

Je mehr die eigenen Truppen in Gaza operieren, desto stärker schwindet in der israelischen Öffentlichkeit die Sympathie für eine Gaza-Besetzung. Einer Studie der Hebräischen Universität Jerusalem ist zu entnehmen, dass die Unterstützung dafür von 65 Prozent am 10. Oktober auf 46 Prozent gesunken ist. „Der Schock, den wir in der ersten Woche nach dem Hamas-Überfall erlebt haben, die Wut, die wir in der zweiten feststellen konnten, lassen langsam nach. Jetzt kümmern sich die Israelis mehr um die Geiseln und sind weniger geneigt, sich für eine erneute Besatzung zu erwärmen“, meint Nimrod Nir, Forscher an der sozialwissenschaftlichen Fakultät. Dies deckt sich mit schwindenden Sympathiewerten für die Regierung Netanjahu.

Der Ministerpräsident Benjamin Netanjahu selbst ist in Bedrängnis geraten, nachdem er versucht hat, die Verantwortung für den Angriff der Hamas von sich zu weisen. Am Wochenende twitterte er, die Chefs der Geheimdienste hätten ihm versichert, die Hamas sei eingedämmt und habe keine Angriffspläne. Stunden später löschte er die Aussage und entschuldigte sich.

Netanjahu-freundliches Blatt kritisiert Benjamin Netanjahu

Dieses Verhalten sorgte bei vielen Israelis für Kritik. Ihr Vorwurf: Netanjahu habe durch seine Strategie, die Palästinenser spalten zu wollen, den Einfluss der Hamas auf Gaza erleichtert. „Seit seiner Regierungsübernahme 2009 hat Netanjahu die Hamas als Alternative zur Palästinensischen Autonomiebehörde aufgebaut“, schreibt Yoav Limor, Militärkorrespondent von Israel Hayom, einem normalerweise Netanjahu-freundlichen Blatt. „Unzählige Male wurde er gewarnt, dass er einen gefährlichen Plan verfolge. Anstatt etwas für pragmatische palästinensische Kräfte zu tun, stärkte er diejenigen, die Israels Existenz niemals anerkennen werden.“ Ben Caspit, Kommentator der Zeitung Ma’ariv, nennt Netanjahu „eine mit Lumpen ausgefüllte Vogelscheuche, die als Premierminister auftritt“. Seine Likud-Partei täte gut daran, ihn zu entfernen. Er sei „geistig und moralisch unfähig“.

Währenddessen stoßen israelische Panzer im Norden des Gazastreifens weiter vor. Die Anzeichen verdichten sich, dass versucht wird, Gaza-Stadt vom Süden her abzuschneiden und Quartiere zu belagern, die sich Richtung Norden bis nach Beit Hanoun erstrecken. Zugleich besagen Zeugenberichte, israelische Panzer hätten die wichtigste Nord-Süd-Straße Salah al-Din südlich von Gaza-Stadt durchschnitten und würden am Rand der Stadtteile Zaytun und Shuja’iyya stehen. Es werde auf jedes Fahrzeug geschossen, das versuche, diese Route zu nehmen. Ein zu Wochenbeginn von israelischem Militär veröffentlichtes Video zeigt gepanzerte Fahrzeuge, die sich zwischen Gebäuden bewegen, und Soldaten, die in einem Haus – hinter sich offenes Land – Stellung beziehen. Wo genau, blieb unklar.

Leichname in weiße Leinen im Al-Shifa-Hospital

In Gaza-Stadt selbst liegen im Al-Shifa-Hospital die Toten in weiße Leichentücher gehüllt auf dem Boden. Oft seien es nur zerstückelte Überreste von Menschen, die man hier zur Bestattung vorbereite, sagt Salama Maarouf aus einem von der Hamas geführten Medienbüro, das dem des Senders Al Jazeera gegenüberliegt. Dutzende von Leichen könnten nicht identifiziert werden. Teilweise seien ganze Familien ausgelöscht worden. „Wir kennen ihre Identität auf dieser Erde nicht, aber sie sind im Himmel bekannt“, so Salama. Laut Gesundheitsministerium in Gaza sind bei den Bombardements mehr als 8.300 Menschen ums Leben gekommen. Wie Save the Children mitteilt, wurden drei Wochen lang in Gaza mehr Kinder getötet als in jedem Jahr seit 2019 bei allen Konflikten weltweit.

Hilfsorganisationen beklagen, wie sehr sich die humanitäre Krise verschärft, da es an Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten und Treibstoff fehlt. Bei einem Besuch am Grenzübergang Rafah zu Ägypten, der einzigen Passage für ein Rinnsal an Hilfsgütern, erklärte Karim Khan, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, die Behinderung von Hilfe könne ein Kriegsverbrechen sein.

Rory Carroll und Peter Beaumont berichten für den Guardian aktuell aus Jerusalem

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Geschrieben von

Rory Carroll, Peter Beaumont | The Guardian

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