Europawahl ohne Sperrklausel

Chancen der Parteien Das BVerfG hat die Sperrklausel bei der Europawahl gekippt. Den Befürwortern einer moderaten Hürde hat Verfassungsrichter Müller die Argumentation nicht erleichtert

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Das Bundesverfassungsgericht hat nach der 5%-Sperrklausel mit Entscheidung vom 26. Februar 2014 auch die 3%-Hürde gekippt, so dass am 25. Mai erstmals auch Parteien in das Europaparlament einziehen könnten, denen bislang ein Mandat versagt blieb.

Während insbesondere die Vertreter von CDU/CSU und SPD die Entscheidung kritisieren und vor einer Zersplitterung und sukzessiver Handlungsunfähigkeit des in seinen Kompetenzen in den vergangenen Jahren gestärkten Europaparlaments warnen, sind die Vertreter der klagenden Kleinparteien, deren Spektrum von der Piratenpartei über die Freien Wähler, die Partei des früheren Titanic-Chefredakteurs Martin Sonneborg bis zu REP und NPD reichte, aber auch der Linkspartei-Vorsitzende Bernd Riexinger erfreut. Letzterer twitterte: "Die 3-Prozent-Hürde für die Europawahl ist Geschichte. Das ist gut so. Zugangshürden für Parlamente sind Demokratiehürden."

Durchschnittlich rund 2,4 Mio. parlamentarisch nicht repräsentierte Europawahlstimmen seit 1979

Tatsächlich führte die bislang bestehende Sperrklausel dazu, dass bei den sieben seit 1979 stattgefundenen Europawahlen durchschnittlich 2,4 Millionen Wählerinnen- und Wählerstimmen unberücksichtigt blieben, weil sie auf Parteien entfielen, die weniger als 5% erhielten. Besonders drastisch zeigte sich dies bei der Europawahl 1994, als sowohl der PDS (4,7%), der FDP (4,1%) und den Republikanern (3,9%) der Einzug in das Europaparlament versagt blieb. Insgesamt blieben damals 6,7 Millionen Wähler/-innenstimmen für insgesamt 22 sogenannte Sonstige Parteien außen vor.

Von einer eindeutigen Zunahme parlamentarischer Nicht-Repräsentanz von Wählerinnen und Wählern oder Parteien kann im Vergleich der Europawahlen gleichwohl nicht die Rede sein. Bei der ersten Europawahl 1979 verfehlten nur fünf Parteien die Sperrklausel, darunter die Grünen mit 3,2% der abgegebenen Stimmen. Fünf Jahre später entfielen auf neun Sonstige Parteien nur 918.817 Stimmen, was rund 185.000 Stimmen weniger waren als 1979. Bei der Europawahl 1989 kandidierten 16 Sonstige Parteien erfolglos. Die DVU schnitt mit 1,6% am stärksten ab. Der BfB erzielte bei der Europawahl 1994 mit 1,1% nach den bereits genannten drei großen Sonstigen: PDS, FDP, REP, das beste Ergebnis. Insgesamt kandidierten bei dieser Wahl 22 Parteien erfolglos für das Europaparlament. Mit 18 Sonstigen Parteien reduzierte sich die Zahl der unberücksichtigt gebliebenen Parteien bei der Europawahl 1999. Während der PDS der Einzug in das Europaparlament gelang, verfehlte die FDP mit 3,0% erneut ihr Wahlziel, während die Republikaner auf 1,7% abfielen. Noch einmal fünf Jahre später waren nur noch 13 Sonstige Parteien zur Europawahl angetreten, darunter die Republikaner (1,9%), die Tierschutzpartei (1,3%), die GRAUEN (1,2%) und die Familienpartei (1,0%) mit einem Ergebnis oberhalb von 1%. Bei der Europawahl vor fünf Jahren stieg die Zahl der erfolglos kandidierenden Parteien wieder auf 22 und die für sie abgegebenen Stimmen um rund 1 Million auf 2,84 Millionen an. Die Freien Wähler errangen 1,7%, gefolgt von den REP (1,3%), der Tierschutz- (1,1%) und der Familienpartei (1,0%) sowie den Piraten mit 0,9%.

Ein Wegfall jeglicher Sperrklausel hätte auf Basis der Ergebnisse von 2009 zum Ergebnis gehabt, dass neben den Unionsparteien, der SPD, Grünen, FDP und Linkspartei noch sieben weitere Parteien mit einem oder zwei Abgeordneten in das Europaparlament eingezogen wären.

Vermutlich zehn bis elf deutsche Parteien im künftigen Europaparlament

Daraus zu schlussfolgern, dass auch bei der in wenigen Wochen stattfindenden Europawahl von fünfzehn deutschen Parteien im Europaparlament ausgegangen werden kann, erscheint aus heutiger Sicht jedoch etwas voreilig.

Zu konstatieren ist, dass das für die Berechnung der deutschen Mandatszahl angewandte Zählverfahren Sainte-Laguë tendenziell die kleineren Parteien bevorzugt. Durch den EU-Beitritt Kroatiens verringerte sich die Zahl der auf Deutschland entfallenden Mandate auf 96 zu entsendende Europaabgeordnete.

Eine Abschätzung der Erfolgschancen der kleinen Parteien für die Europawahl ist insoweit schwierig, als die Ergebnisse der veröffentlichten Umfragen die Sonstigen Parteien in der Regel nicht oder nur in Einzelfällen, ab einer besonderen Relevanz, gesondert ausweisen. So wurde die Piratenpartei längere Zeit bei den Sonntagsfragen gesondert ausgewiesen, derzeit trifft dies auf die Alternative für Deutschland, AfD, zu.

Fasst man die bislang zwischen dem 26. Januar 2014 und dem 21. Februar 2014 veröffentlichten Umfragen zur Europawahl der Institute Forschungsgruppe Wahlen, INSA, Infratest dimap und Emnid zusammen, wäre eine Mandatsverteilung denkbar, bei der die Unionsparteien 38 Sitze erhielten, die SPD 25, die Grünen 10, die Linke 8, die AfD 6 und die FDP 3. Weitere Mandate könnten, das Ergebnis der Bundestagswahl 2013 sowie die Europawahlergebnisse 2009 und 2004 zugrunde gelegt, auf die Piraten (2), die Freien Wähler (1-2), die NPD (1) und ein weiteres Mandat gegebenenfalls auf die Tierschutz- oder die Familienpartei entfallen.

Der Einzug von unübersehbar vielen Einzelabgeordneten in das Europaparlament aufgrund der Mandatszahl für Deutschland und dem faktischen Grenzwert von ca. 1,4% +/- ca. 0,1% ist folglich nicht zu befürchten.

Das Minderheitenvotum von Verfassungsrichter Müller überzeugt nur teilweise

Stellt man diese Zahlen den im Minderheitenvotum von Bundesverfassungsrichter Müller dargelegten Positionen gegen die Streichung jeglicher Sperrklausel gegenüber, erscheint manches zunächst plausible Argument letztlich nicht mehr überzeugend.

Grundsätzlich zugestimmt werden kann Müller zunächst in seiner Kritik an der Sperrklauselentscheidung dort, wo er die Überschreitung der Kompetenzgrenzen des Bundesverfassungsgerichtes thematisiert: „Die Ausgestaltung des Wahlrechts ist Sache des Gesetzgebers. (…) Den hierbei sich ergebenden Gestaltungsspielraum hat das Bundesverfassungsgericht zu achten und nur zu prüfen, ob dessen Grenzen überschritten sind. Ob es zur Sicherung der Funktionsfähigkeit einer zu wählenden Volksvertretung einer Sperrklausel bedarf, ist auch nach Auffassung des Senats auf der Basis einer Prognose über die Wahrscheinlichkeit des Einzugs von Splitterparteien, dadurch künftig zu erwartender Funktionsstörungen und deren Gewicht für die Aufgabenerfüllung der Volksvertretung zu entscheiden. Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist die Kontrolle dieser Prognoseentscheidung; es ist aber nicht befugt, seine eigene Prognose an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers zu setzen.“

Dass der Wegfall jeglicher Sperrklauseln innerhalb der EU zu einer Beeinträchtigung der Arbeit des Europaparlaments führen würde, weil einerseits die sowieso geringere Bindekraft der bestehenden Europafraktionen, die nicht unrelevante Zahl fraktionsloser Abgeordneter sowie die Relevanz anti-europäischer Parteien im Parlament gestärkt würde, ist zwar ebenfalls nicht von der Hand zu weisen, doch sind die von Müller gesetzten Prämissen zu einseitig und wenig evident.

Bereits die von Müller vorgetragene Annahme, dass die EP-Fraktionen Mitglieder von konkurrierenden nationalen Parteien nicht in die Fraktionen integrieren würden, kann nicht überzeugen. Einerseits zeigen bereits Beispiele aus den bestehenden Fraktionen, dass diese vom EP-Präsidenten während des Verfahrens vorgetragene Argumentation nicht ausreichend evidenzbasiert ist und außerdem kann angenommen werden, dass die Fraktionen eine zweckrationale Entscheidung treffen werden, die mit dem Ziel der Stärkung des jeweiligen Einflusses auf die Integration demokratischer Abgeordneter setzt.

Anzunehmen ist vielmehr, dass neben den Fraktionen, die den europäischen Parteifamilien von den Konservativen und Christdemokraten bis zu Sozialisten und Kommunisten entsprechen, technische Fraktionen als Zusammenschlüsse ideologisch weniger eindeutiger Parteienvertreter an Relevanz gewinnen dürften.

Felix Werdermanns Einwand, dass derzeit im Europaparlament 162 Parteien vertreten sind, weshalb eine Ab- oder Zunahme in moderatem Maße keine wesentliche Veränderung erzeugen würde, ist vollkommen berechtigt.

Erhellend für das Parlamentsbild von Verfassungsrichter Müller ist vor diesem Hintergrund die Prämisse einer gefährdeten „Prägung der parlamentarischen Praxis durch die Zusammenarbeit der (beiden) großen Fraktionen, die regelmäßig eine absolute Mehrheit der Mandate auf sich vereinen“. Für diese beiden Fraktionen sei nämlich „der Fortbestand dieser absoluten Mehrheit nicht gewährleistet“. Gegenwärtig verfügen beide Fraktionen über 61% der Sitze, dies würde, so Müller unter Bezugnahme auf den in der mündlichen Anhörung gehörten Sachverständigen Maurer, auf 56,7% absinken würde, wenn neben Deutschland noch Frankreich, Italien und Großbritannien auf eine Sperrklausel verzichten und das Wahlverhalten insgesamt gleich bliebe.

Es erscheint nur wenig einsichtig, warum das Erfordernis der beiden großen Fraktionen im Europaparlament, also Konservativen und Sozialdemokraten, künftig auch die Interessen und Positionen der kleineren Fraktionen, die ebenfalls relevante demokratische politische Strömungen des europäischen Parteiensystems und die Interessen deren Wähler/-innen repräsentieren, einzubeziehen, für die europäischen Entscheidungen von Nachteil sein muss.

Darüber hinaus könnte die Einführung europäischer Listen, für die Werdermann und die Spitzenkandidatin der Piraten, Julia Reda, plädieren, durchaus ein interessantes Resultat der aktuellen Verfassungsgerichtsentscheidung sein, auch wenn das Argument der Emanzipation von nationalen Interessen, die bei der Wiederaufstellung eine Rolle spielen würden, am Kern der Entscheidungen bei Aufstellungsverfahren für Wahllisten vorbei geht. Auch ein adäquates partizipatives Aufstellungsverfahren wäre zu entwickeln, denn die Grünen haben mit ihrem Online-Caucus die Schwächen von internetbasierten Abstimmungsverfahren verdeutlicht.

Das Kind nicht mit dem Bade ausschütten: Moderate Sperrklausel statt völliger Abschaffung

Festzuhalten bleibt: Sperrklauseln stellen einen Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien dar.

Die moderate Absenkung der Sperrklausel von 5% auf z.B. 3% gewährleistet, in Übereinstimmung mit Verfassungsrichter Müller sowohl „die Abbildung der Breite des politischen Meinungsspektrums“ . Sie würde auf diesem Wege auch gewährleisten, dass die Innovation, die von jungen Parteien ausgeht, parlamentarisch wirksam werden kann, ohne dass die parlamentarische Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit im Übermaß eingeschränkt wird, wie dies bei einer Absenkung auf 1% oder durch die vollkommene Abschaffung für kommunale, Landtags- oder Bundestagswahlen nicht auszuschließen ist.

Ludwig Grevens Einwand, dass aller Erfahrung nach "viele Kleinparteien alsbald an sich selber scheitern, wie die NPD, die DVU, die Stadtpartei und die Schillpartei in Hamburg oder zuletzt die Piraten" und sowohl die Wähler/-innen als auch die übrigen Parteien "es schon verkraften, wenn einige ihrer Vertreter im Landtag, Bundestag oder im Europaparlament herumsitzen und Fensterreden halten", ist zwar charmant aber kein ausreichendes Argument für die völlige Abschaffung der Sperrklausel. Es wäre überzeugender, die Chance, statt nur Fensterreden zu halten, dauerhaft, also über den Zeitraum einer Wahlperiode hinaus, durch bislang im Parteien- und Politikspektrum nicht repräsentierte Positionen auf die politische Gestaltung des jeweiligen Gemeinwesens Einfluss zu nehmen, denjenigen Parteien gegeben werden, die eine tatsächlich relevante Zahl von Wähler/-innen auf sich vereinigen können.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

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