Die „falschen“ Flüchtlinge vom Balkan

Diskriminierung Menschen aus dem Westbalkan werden pauschal als "falsche Flüchtlinge" diffamiert. Ein genauer, differenzierter Blick auf ihre Fluchtursachen ist dringend vonnöten

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Um mit einem beliebten Aufkleberspruch zu starten: Kein Mensch ist illegal.

Ich denke, diese Aussage sollte in einer zivilisierten Gesellschaft Grundlage einer jeden Diskussion zum Thema Flüchtlinge sein. Das deutsche Asylrecht sieht diesen humanistischen Imperativ zwar fundamental anders, doch heißt das nicht, dass es dem Imperativ an Legitimität mangelt, sondern vielmehr dass mit dem deutschen Recht etwas grundlegend nicht stimmt.

Laut deutschem Grundgesetz Art. 16a (1) genießen politisch Verfolgte das Recht auf Asyl. Gleich der nächste Absatz macht dieses Grundrecht jedoch umgehend zur Farce, da Asylsuchende, die über einen sicheren Drittstaat einreisen, sich nicht mehr auf das Asylrecht in Deutschland berufen können. Ein Blick auf die Karte Europas verrät dann auch recht schnell, dass Deutschland ausschließlich von sicheren Drittstaaten umgeben ist und so eine grundgesetzkonforme Antragsstellung auf Asyl praktisch unmöglich ist.

Schutzsuchende werden durch diese im Kern widersprüchliche Gesetzgebung von vornherein kriminalisiert und müssen als Bittsteller auf die Kulanz der Behörden hoffen – die bürokratisch-deutsche Interpretation von Kein Mensch ist illegal.

Nach dieser befremdlichen Rechtsauffassung ist es nur folgerichtig, dass die Anerkennungsquote für Asylberechtigte konstant unter 2% liegt; in den ersten sechs Monaten dieses Jahres war es 1 klägliches Prozent. Zwar ist über andere Mechanismen die „Gesamtschutzquote“ mit 36% deutlich höher, doch macht sich die deutsche Bürokratie mit ihrer fahrlässigen Zahlenakrobatik unweigerlich zum Nährboden für Hetze und Gewalt von rechts: wenn es lediglich rund 1% „echte“ Flüchtlinge sind, so sind die restlichen 99% folglich „falsche Flüchtlinge“ und damit unberechtigterweise im Land. Das deutsche Grundgesetz stattet Populisten von rechts stillschweigend mit „Argumenten“ aus.

So auch Horst Seehofer (CSU), der diese stumpfe „Argumentation“ befeuert, indem er sich über angeblich „massenhaften Asylmissbrauch“ beklagt. Seine populistische Hetze hält einer nüchternen Betrachtung wie der von Pro Asyl natürlich niemals stand. Auch Karamba Diaby (SPD) dekonstruiert Seehofers versuchte Kriminalisierung von Flüchtlingen:

„Der Begriff des Asylmissbrauchs ist absurd. Schließlich werfen wir Studierenden ja auch nicht vor, „BAföG-Missbrauch“ zu betreiben, wenn sie unberechtigterweise einen BAföG-Antrag stellen.“

Guter Flüchtling – böser Flühttp://justicenow.de/wp-content/uploads/2015/08/focus_33-15_FalscheFluechtlinge-235x300.jpgchtling

Der Vorwurf „Asylmissbrauch“ wird dann pauschal all jenen Flüchtlingen angeheftet, die aus vermeintlich sicheren Herkunftsländern stammen; also solchen, in denen keine Kriege wüten. So wird unterteilt in die „echten“ Flüchtlinge, die vor Krieg fliehen und den sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen, den „falschen“ Flüchtlingen, die in Deutschland illegitimerweise „nur“ auf ein besseres Leben hoffen, so der Vorwurf.

Neben Flüchtlingen aus afrikanischen Ländern wird das Label „Wirtschaftsflüchtling“ vor allem Menschen aus der Westbalkanregion angeheftet. In Deutschland stellen Menschen aus Kosovo, Albanien, Serbien und Mazedonien zusammengenommen in der Tat die größte Gruppe unter den Flüchtlingen. In Europa insgesamt sind es jedoch weiterhin Menschen aus den drei von Krieg und Terror geplagten Ländern Syrien, Irak und Afghanistan, die zusammen 38% der Flüchtlinge ausmachen, während Menschen aus den Westbalkanländern 12% zählen.

Der Terminus „Wirtschaftsflüchtling“ ist in der deutschen Öffentlichkeit mittlerweile zum Schimpfwort verkommen, es wird flächendeckend Illegitimität, Kriminalität und Schmarotzertum suggeriert. Aber verdienen die aus den Balkanländern nach Deutschland flüchtenden Menschen ernsthaft dieses Brandmarken als „falsche“ Flüchtlinge?

Zur Beurteilung dieser Frage sollte die Westbalkan-Region aus drei wesentlichen Punkten heraus betrachtet werden:

  • die sozioökonomische Situation
  • die mafiösen Strukturen
  • die Lage der Sinti und Roma

Das Armenhaus Europas

Die Westbalkan-Staaten Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Albanien, Montenegro und Kosovo stellen sechs der zehn ärmsten Länder Europas. Das durchschnittliche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf dieser Länder beträgt 5.154 Dollar pro Jahr und liegt damit bei rund einem Sechstel des EU-Durchschnitts von 29.012 Dollar jährlich.

Die Arbeitslosenzahlen im Westbalkan haben längst jedes Maß sozioökonomischer Erträglichkeit überstiegen. Im Kosovo liegt sie bei „rekordverdächtigen“ 35%, in Mazedonien beträgt die Jugendarbeitslosigkeit katastrophale 52%. Der Politautor Tomasz Konicz spricht daher längst von einer „verlorenen Generation“ auf dem Balkan, deren Perspektivlosigkeit der Nährboden für mafiöse Strukturen darstellt.

In Serbien, das etwa die Hälfte der Bevölkerung und der Wirtschaftsleistung in der Region stellt, wirken die Folgen der katastrophalen Flut von 2014 noch immer auf Landwirtschaft und Industrie im Lande nach. 32.000 Häuser wurden zerstört und ein Gesamtschaden von 1,7 Milliarden Euro verursacht.

Auch die von der Troika unter deutscher Führung eskalierte Griechenland-Krise wirkt weit auf den Balkan hinaus. Die griechische Wirtschaft ist beispielsweise eng verflochten mit der in Albanien. So kamen vor der Krise zwei Drittel der ausländischen Arbeiter in Griechenland aus Albanien und stützten mit Zahlung in die Heimat die albanische Wirtschaft. Von der wirtschaftlichen Katastrophe in Griechenland werden nun auch einige Balkanländer in Mitleidenschaft gezogen und es ist nüchterne ökonomische Konsequenz, dass sich die wegen der aus Deutschland diktierten Sparpolitik in Griechenland arbeitslos gewordenen Albaner nun in anderen Ländern Europas auf Arbeitssuche begeben.

In Albanien leben noch immer 7% der Bevölkerung von weniger als 55 Euro pro Monat. Da drängt sich mir die Frage auf:

Kann einem Menschen, der von 1,83 Euro am Tag „leben“ muss, ernsthaft das Recht verwehrt werden, woanders nach einem lebenswerten Leben zu suchen?

Zentrum der organisierten Kriminalität

Die Westbalkan-Region ist von mafiösen Strukturen geprägt, Rechtsstaatlichkeit ist kaum vorhanden und die staatlichen Gebilde müssen wohl eher als „Staatsatrappen“ bezeichnet werden, in denen kriminelle Clans mit blutiger Hand regieren. Korruption ist allgegenwärtig und Erlöse aus organisierter Kriminalität sind in einigen Regionen wesentlicher Bestandteil der „Wirtschaft“.

Ein geleakter BND-Bericht hält für die Region daher auch ein vernichtendes Urteil bereit:

„Der Kosovo und der gesamte West-Balkan-Raum werden bis auf Weiteres eine Schlüsselrolle als Transitregion für den Drogenhandel in Richtung (West-) Europa behalten. Gerade der Kosovo gilt dabei als ein Zentrum der [organisierten Kriminalität], aus dem kriminelle Aktivitäten in ganz Europa gesteuert werden.“

Der vom Westen gepushte Regierungschef des Kosovo, Hashim Thaçi, steht an der Spitze der kosovarischen Mafia und soll in Drogen- wie in Organhandel, in „Korruption in riesigem Stil“ wie in politische Auftragsmorde involviert sein. Er hat „ganz Kosovo im Griff“, wie es Zeit-Online formuliert. Für Tomasz Konicz ist der Kosovo eine „regelrechte Gangsterrepublik“ und „das Paradebeispiel für einen europäischen gescheiterten Staat“.

Der Regierungschef in Montenegro, der Sozialist Milo Đukanović, habe die Loslösung Montenegros von Jugoslawien im Jahre 2006 lediglich vorangetrieben, um als Staatschef seines eigenen Landes ungehindert dem europaweiten Zigarettenschmuggel nachgehen und sein Mafianetzwerk ausbauen zu können, spekuliert gar die FAZ und wirft ihm „Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe“ vor.

Teile des Westbalkans müssen als quasi-rechtsfreie Räume bezeichnet werden. So sind in Albanien seit 1991 10.000 Menschen aufgrund Generationen alter Fehden zwischen verfeindeten Familienclans der Blutrache zum Opfer gefallen, und auch heute noch sind Tausende junger Männer vom Tode durch Lynchjustiz bedroht. Frauen werden kaum Rechte zuerkannt, staatliche Stellen sind nicht Willens, ihnen Schutz zu gewähren.

Sinti und Roma

Etwa ein Drittel der aus dem Westbalkan flüchtenden Menschen gehört der Gruppe der Sinti und Roma an. Ein umfassendes Gutachten der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl über die Westbalkanstaaten geht ausführlich auf deren Lage in der Region ein.

Roma in Serbien würden demnach „in allen gesellschaftlichen Bereichen diskriminiert“, Diskriminierung und soziale Gewalt gegen Roma werden „als das schwerwiegendste Menschenrechtsproblem in Serbien“ bezeichnet.

Da Roma systematisch vom Wohnungsmarkt ausgeschlossen werden, fristet ein großer Teil der Menschen ein Dasein in Slums unter katastrophalen Lebensbedingungen; mit massiv eingeschränktem Zugang zu Wasser, Strom und Kanalisation. Ein weiterer Teil lebt eingepfercht in Containersiedlungen abseits der Stadtzentren.

Die staatliche Diskriminierung im Bildungssystem führt zu der absurden Situation, dass in einigen Regionen lediglich ein Drittel der Roma-Kinder einen Grundschulabschluss erlangt (sic!). Die Diskriminierung im Gesundheitssystem geht soweit, dass viele Roma aus Angst vor diskriminierendem Verhalten von Ärzten und Pflegepersonal Gesundheitseinrichtungen generell meiden.

Weiterhin werden Roma in den Westbalkanstaaten systematisch vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen. So sind 70% der in Mazedonien, 80% der in Serbien und wahnwitzige 99% der in Bosnien und Herzegowina lebenden Roma ohne Arbeit. Diese sozioökonomische Katastrophe wird durch den staatlichen Ausschluss aus den Systemen der sozialen Sicherung oft ins Unerträgliche verschärft.

Rassistische Übergriffe auf Roma sind in Serbien an der Tagesordnung; nicht nur von Rechtsradikalen und Hooligans, auch von staatlichen Stellen.

So nehmen Hetze und Gewalt teilweise pogromartige Züge an und enden im Extremfall tödlich. Roma beklagen einen systematisch fehlenden Schutz der Polizei vor dieser rassistischen Gewalt und ein mangelndes Interesse an der Aufklärung von Übergriffen. Pro Asyl schreibt:

„Die Gewalt gehe sowohl von Privatpersonen als auch von Vertretern der Staatsgewalt aus; sie betreffe Roma unterschiedslos, als Einzelpersonen oder als Mitglieder einer Gemeinschaft.“ (Hervorhebungen JusticeNow!)

Diese eben auch von staatlichen Stellen systematisch begangenen Gewaltverbrechen und die generelle staatliche Diskriminierung von Roma erfüllen die Asyl-Definition der deutschen Behörden, die eine politische Verfolgung als jene definiert, die „dem Einzelnen in Anknüpfung […] an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn [aus] der staatlichen Einheit ausgrenzen.“ – und stellen damit sehr wohl einen Asylgrund in Deutschland dar!

Pro Asyl zeichnet für Roma in Mazedonien und in Bosnien und Herzegowina ein ähnlich düsteres Bild von flächendeckender gesellschaftlicher wie staatlicher Diskriminierung.

Urteil vom deutschen Schreibtisch aus

All die angesprochenen Fluchtursachen für Menschen vom Westbalkan gebieten es den deutschen Behörden, genauer hinzusehen und die schändliche Anerkennungsquote von rund 1% nach oben zu schrauben. Dass dies möglich ist und die behördliche Diffamierung der Balkan-Flüchtlinge in Deutschland reine Willkür ist, beweisen andere Staaten Europas: so erhalten beispielsweise 37% der serbischen Flüchtlinge in der Schweiz oder 43% der Kosovaren in Finnland Asylstatus.

Das deutsche Polit-Establishment spricht sich im Gegensatz zu seinen europäischen Kollegen jedoch dafür aus, sämtliche Staaten des Westbalkans als „sichere Herkunftsländer“ auszuweisen. Die deutsche Bundesregierung sieht in dieser Ausweisung ein Werkzeug, um „mit den stark angewachsenen Asylbewerberzahlen umzugehen.“

Diese Aussage von Regierungssprecher Seibert birgt politische Sprengkraft in sich, denn für die Bundesregierung ist die Realität vor Ort offenbar nicht entscheidend für die Klassifizierung eines Staates als „sicheres Herkunftsland“. Das Labeln ist vielmehr politisches Kalkül und dient als ein Mittel, sich Flüchtlingen schneller zu entledigen. Dieses Gleichschalten von komplexen Einzelschicksalen offenbart ein menschenunwürdiges Politikverständnis der deutschen Bundesregierung.

Die Diskriminierung der Westbalkanflüchtlinge durch Politik, Medien und Justiz, die Einteilung in „echte“ und „falsche“ Flüchtlinge, muss endlich ein Ende finden – genauso das subtile Verkommen von Solidarität zu einer leeren Worthülse. Stumpfe Phrasen müssen einer neuen Empathie weichen.

Dieser Artikel erschien am 26. August zuerst auf dem blog justicenow.de

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Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jakob Reimann

Auf meinem blog justicenow.de setze ich mich kritisch mit den Themen Kapitalismus, Krieg und Rattenschwanz auseinander. Herrschaftsfrei, gewaltfrei!

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