„Du bist Deutschland“: Wie der Neoliberalismus nationalistische Gefühle aufwärmt

Kolumne Die Entfesselung der Märkte brockte uns nicht nur duzende Chefs und Teambuilding-Seminare in Hochseilgärten ein, sondern auch den Wiederaufstieg des Nationalismus. In der „Deutschland AG“ soll ordentlich reingeklotzt werden
Ausgabe 43/2023
Teambuilding-Seminare können auch ein „Zuviel“ an Gruppengefühl hervorbringen
Teambuilding-Seminare können auch ein „Zuviel“ an Gruppengefühl hervorbringen

Foto: Picture Alliance/Markus Scholz

Sebastian Friedrich ist Freitag-Kolumnist und beschäftigt sich in seinem „Lexikon der Leistungsgesellschaft“ seit 2013 mit den Ideologien des Alltags. Denise M’Baye und er sind die Hosts des NDR-Philosophie-Podcasts Tee mit Warum. Friedrich arbeitet für das ARD-Magazin Panorama, für das er auch über die Auseinandersetzungen bei Amazon berichtet.

Der Neoliberalismus brachte nicht nur duzende Chefs, endlose Feedbackschleifen, Teambuilding-Seminare in Hochseilgärten und ermordete Gewerkschafter mit sich. Er brachte auch die Illusion der Abkehr von als überholt geltenden Ideologien wie dem Nationalismus. Für die Progressiven unter den Neoliberalen war der Schock entsprechend stark, als plötzlich jemand auftrat, der „America First“ ins Mikrofon brüllte. Fast zeitgleich formierte sich in Deutschland eine Partei, die sich ebenfalls anschickte, zunehmend unverblümt den alten Nationalismus zu reanimieren. Dieser, so lässt sich mit einigen Jahren Abstand feststellen, konnte sich in Deutschland schneller wieder durchsetzen als gedacht. Vielleicht hatte er es auch leichter, weil er etwas zum Anknüpfen hatte: Anders als von neoliberalen Ideologen gern behauptet war der Nationalismus nämlich nie weg – er kam nur moderner, lockerer, weltoffener daher.

Gesellschaftspolitisch gewährte der neue Nationalismus es auch Migranten, Teil des Volkes zu werden, vorausgesetzt, sie erwiesen sich als verwertbar. Geschichtspolitisch zeigte man sich empört über die Taten der Großeltern, um dann einen Halbsatz später zu betonen, wie schuldbewusst man sei. Wirtschaftspolitisch distanzierte man sich von jeglichem bösen Kollektivismus und feierte sich als Volk von Millionen Unternehmern in der AG Deutschland: „Du bist Deutschland.“

Aktuell zeigt sich vielerorts, dass nationalistische Prämissen nicht nur die Sache von Männern in Nadelstreifenanzügen oder von solchen sind, die am liebsten wieder braune Hemden tragen würden. Es zeigt sich, wie die Nationalität beginnt, wieder alles zu überstrahlen, etwa wenn Theater beschließen, nach dem Beginn des Ukrain-Kriegs keine Stücke von Russen mehr aufzuführen, Filmfestivals pauschal keine Russen mehr einladen und russische Sportler von Wettbewerben ausgeschlossen werden. Es zeigt sich, wenn vor dem Eindruck des grausamen Hamas-Massakers vom 7. Oktober die palästinensische Schriftstellerin Adania Shibli einen Literaturpreis erst nach der Frankfurter Buchmesse erhalten soll. Oder wenn Menschen einer bestimmten Herkunft pauschal Antisemitismus vorgeworfen wird.

Es sind nur ein paar Beispiele, aber sie zeigen, wie neuer und alter Nationalismus immer offener auftritt – auf verschiedenen Ebenen, in unterschiedlichsten Kreisen. Da wünscht man sich ja fast die Zeit der Illusionen des Neoliberalismus zurück.

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