Gemeinschaft statt Profite: Wie sich Bayer Leverkusen gegen die Kommerzialisierung wehrt

Fußball Die britische Premier League verkauft Tickets lieber an finanzstarke Touristen als an eingefleischte Fans. Umso besser, dass in Deutschland gerade ein Verein den Bundesliga-Titel geholt hat, der noch in seiner Heimatstadt verwurzelt ist
Irgendwie sympathisch: Bayer Leverkusen
Irgendwie sympathisch: Bayer Leverkusen

Foto: Andreas Rentz/ Getty Images

Eine Ecke von links, siebte Minute in der Nachspielzeit. Der kroatische Verteidiger Josip Stanišić springt am kurzen Pfosten in die Luft. Sein Kopfball ist zu hart, als dass man ihn als Streifschuss bezeichnen könnte. Aber er ist gut platziert und fliegt über das Tor und zum Ausgleich. Die schwarz-rote Ecke des Signal-Iduna-Parks bricht in Jubel aus. Noch Minuten nach Spielende feiern die Fans mit ihren Spielern. Der Bundesligatitel ist zwar schon gewonnen, aber in diesem Spiel hat Bayer Leverkusen etwas anderes Wichtiges bewiesen: Dass der Verein ungeschlagen ist.

Bis zu diesem Moment beherrschte ein Gefühl der Enttäuschung das Match Borussia Dortmund gegen Leverkusen. Hatte es doch vor einem Monat noch so ausgesehen, als ob die Mannschaft von Xabi Alonso in dieser Partie den Titel holen könnte. Doch dann verspielte Bayern München vor zwei Wochen einen Zwei-Tore-Vorsprung gegen Heidenheim. Die Folge: Im Signal-Iduna-Park ging es nur noch darum, ob Leverkusen eine fünf Spiele andauernde Siegesserie schaffen würde. Auch die Dortmunder waren nach dem Sieg im Viertelfinale der Champions League gegen Atlético am Mittwoch nicht mehr auf der Höhe ihrer Kräfte. Der fünfte Platz ist ihnen aber so gut wie sicher. Und da es in Deutschland in der nächsten Saison aller Voraussicht nach fünf Champions-League-Plätze geben wird, spielt es keine große Rolle mehr, ob sie RB Leipzig einholen (der Verein liegt mit zwei Punkten Vorsprung auf Platz vier.)

Bayer Leverkusen spielt eine Traumsaison

Und so war das Spiel in der Tat ein wenig schlecht gelaunt. Doch dann brachte Niclas Füllkrug neun Minuten vor Schluss Dortmund in Führung, sodass Leverkusen sich zurückkämpfen musste. Noch nie war eine Mannschaft eine komplette Bundesligasaison ungeschlagen geblieben. Selbst im DFB-Pokal, wo man im Finale auf den Zweitligisten Kaiserslautern trifft, sowie in der Europa League, wo im Halbfinale Roma wartet, ist Leverkusen unbesiegt. Mit der Einwechslung von Patrik Schick und Victor Boniface änderte sich das Tempo, eine Art „Muskelgedächtnis“ setzte ein. Plötzlich war zu sehen, warum Leverkusen in dieser Saison so erfolgreich ist. Zum 20. Mal in dieser Saison erzielten sie ein Tor nach der 85. Minute eines Spiels – und ihre makellose Serie wurde verlängert …

Für Leverkusen ist es eine Traumsaison. Fünfmal wurden sie bereits Vizemeister in der Bundesliga. In der Saison 2001/02 schafften sie das silberne Triple: Sie wurden Zweiter in der Liga und verloren sowohl das Pokal- als auch das Champions-League-Finale. Aber der Spitzname „Neverkusen“ lässt den Sieg, den sie in dieser Saison erreicht haben, nur noch süßer schmecken. Angesichts der Unterstützung durch den Pharmariesen Bayer, ist dies vielleicht nicht ganz das Märchen, als das es manche darstellen. Aber es hat schon etwas Ergreifendes, wenn ein Verein nach 120 Jahren Geschichte zum ersten Mal wieder etwas gewinnt. Es ist absolut nicht der routinemäßige Bundesligaerfolg, der für Bayern München zur Normalität geworden ist.

Eher macht der Vergleich von Bayers Erfolg mit dem Sieg eines anderen Vereins Sinn: Zum ersten Mal seit 40 Jahren gewann der Athletic Club das spanische Fußballturnier Copa del Rey. Die Flussufer in Bilbao waren eine einzige rot-weiße Masse, als sie ihren traditionellen Siegeszug auf einem Kahn antraten. Das ist es, was der Fußball immer noch zu leisten vermag: Er kann Provinzstädten ein Gefühl der kollektiven Freude vermitteln und eine Gemeinschaft in ihrer Identität bestätigen. Man muss sich keiner der beiden Städte zugehörig fühlen, um von den Szenen berührt zu sein.

Zum ersten Mal seit 40 Jahren gewann der Athletic Club das spanische Fußballturnier Copa del Rey

Foto: Cristina Quicler

Doch wenn man sich die Realität des modernen Fußballs anguckt, wird man schnell ernüchtert. Bei den meisten Vereinen der Premier League gibt es Proteste gegen die Eintrittspreise. Es entsteht zunehmend der Eindruck, dass sich die Vereine weniger um die traditionellen Fans kümmern, die seit Jahren ihre Dauerkarten kaufen und Woche für Woche zum Spiel kommen, für die der Verein ein fester Bestandteil ihrer Identität ist, ein über Generationen weitergegebenes Geburtsrecht. Die Bosse der Premier League scheinen sich mehr auf die „Touristenfans“ zu konzentrieren, für die ein Spiel ein einmaliges Vergnügen in der Saison, vielleicht sogar einmal im Leben ist; die Art von Fan also, die bereit ist, einen exorbitanten Preis für eine Eintrittskarte zu zahlen und dann den Trip mit einem Einkaufsbummel im Vereinsladen beendet.

Trotzdem ist die Premier League die beliebteste Liga der Welt. Ein Teil ihres Erfolges ist das Interesse aus dem Ausland. Angesichts der Tatsache, dass sie aus ausländischen Spielern, Besitzern und Trainern besteht, wäre es absurd, ausländische Fans abzulehnen. Aber gleichzeitig hat man das Gefühl, dass sich der Fußball auf gefährliches Terrain begibt. Eine der großen Stärken des europäischen Fußballs ist, dass die Vereine organische Gebilde sind, dass sie keine leeren Franchises sind. Sie haben einen Wert und eine Bedeutung, die in der lokalen Gemeinschaft verwurzelt sind. Mit anderen Worten: Sie sind nicht nur Unternehmen. Dies mit dem globalisierten Kontext in Einklang zu bringen, ist äußerst schwierig. Ein ständiges Streben nach Wachstum und höheren Gewinnspannen ist jedenfalls nicht der richtige Weg.

Natürlich ist es naiv zu glauben, dass die meisten modernen Eigentümer etwas anderes im Sinn haben als Profit. Aber es ist auch unmöglich, den Erfolg von Leverkusen und die Freude, die er einer unscheinbaren mittelgroßen Stadt am Rhein gebracht hat, zu betrachten und nicht zu denken, dass es das ist, worum es im Fußball wirklich gehen sollte.

Jonathan Wilson schreibt für den Guardian über Fußball.

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Geschrieben von

Jonathan Wilson | The Guardian

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