Die Neutralität Schwedens war eine Epoche, die schon 1990 zu Ende ging

NATO-Aufnahme Die schwedische Fahne weht vor dem Brüsseler NATO-Hauptquartier, und ein Festzelt ist aufgebaut. Der Beitritt zu einem Militärpakt ist eine Zäsur für die nationale Identität des Landes, das nun die „Bürgerpflicht“ wieder einführen wird
Ausgabe 10/2024
Schwedische und US-amerikanische Soldaten trainieren gemeinsam bei der Übung Archipelago Endeavor (September 2023)
Schwedische und US-amerikanische Soldaten trainieren gemeinsam bei der Übung Archipelago Endeavor (September 2023)

Foto: Jonathan Nackstrand/AFP/Getty Images

Noch vor Kurzem schien die NATO-Mitgliedschaft Schwedens keine beschlossene Sache zu sein. Nachdem das Land seinen Beitrittswillen im Mai 2022 als Reaktion auf den Einmarsch Russlands in die Ukraine bekundet hatte, schien es zeitweise so, als würde der Bewerber für immer in der Schwebe verharren. Aus dem diplomatischen Sumpf, in den Stockholm geraten war, gab es kein Entkommen. Eine Reihe von Koran-Verbrennungen hatte die Beziehungen zur Türkei schwer in Mitleidenschaft gezogen, sodass ein Ja aus Ankara unvorstellbar schien. Außerdem kam es zur Kollision mit der Regierung Ungarns, als deren Demokratieverständnis öffentlich gerügt wurde. Ende Januar aber, nachdem sich das türkische Parlament nicht länger verweigerte, bat der ungarische Premier Viktor Orbán in einem offenen Brief den schwedischen Amtskollegen Ulf Kristersson zum Gespräch.

Im Ergebnis standen die beiden am 23. Februar in Budapest Seite an Seite und verkündeten ein Militärabkommen, das Ungarn den Kauf von vier schwedischen Kampfjets des Typs Gripen ermöglicht. Zugleich erklärten Orbán und sein Gast, dass sie zwar weiterhin nicht in allen Punkten einer Meinung seien – „aber bereit, füreinander zu sterben“. Damit war alles gesagt, sodass die schwedische Flagge vor dem NATO-Hauptquartier in Brüssel wehen kann.

Emma Rosengren vom Stockholmer Institut für Internationale Beziehungen geht davon aus, dass ihr Land als logistischer Knotenpunkt für die NATO dienen werde, „inklusive des Transports von Personal und Material zu einer imaginären künftigen Kriegsfront“. Seit Monaten bereite sich Schweden darauf vor, als sei es bereits vollwertiges Mitglied des Militärpaktes gewesen. In der Tat wurde ein Abkommen mit den USA unterzeichnet, das den Zugang zu 17 nationalen Militärbasen gewährt. Und es waren Pläne im Gespräch, Truppen nach Lettland zu entsenden.

Festzelt und Fahnenmast

Einem für lange Zeit neutralen Land beschert das einen dramatischen Wandel der Identität. Im Januar hatte Premier Ulf Kristersson gemahnt, seine Landsleute, die es gewohnt seien, sich als friedliche Nation zu sehen, müssten sich nun auf die Möglichkeit eines Krieges vorbereiten. Dazu wird die „Bürgerpflicht“ wieder eingeführt, eine Form des Wehrdienstes, der seit Ende des Kalten Krieges abgeschafft ist und nun gegen den Willen eines Teils der Bevölkerung zurückkehrt. Überdies bringt die NATO-Mitgliedschaft auch höhere Verteidigungsausgaben, fortan zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Für die Sozialdemokraten galt die Idee einer NATO-Mitgliedschaft jahrzehntelang als undenkbar. Der einstige Verteidigungsminister Peter Hultqvist erklärte im Herbst 2021, er könne „garantieren“, dass er sich niemals an einem NATO-Beitrittsprozess beteiligen werde. Monate später, als die Invasion Russlands in der Ukraine begonnen hatte, war es die damalige sozialdemokratische Regierungschefin Magdalena Andersson, die eine NATO-Aufnahme einleitete.

Magnus Hjort, Generaldirektor der Agentur für psychologische Verteidigung in Stockholm, spricht von einem „historischen Moment“ für das Land. Robert Dalsjö, Forschungsdirektor der Agentur für Verteidigungsforschung, registriert mit Genugtuung, dass gleich nach dem Plazet Ungarns im Hauptquartier der Allianz ein Festzelt und ein Fahnenmast für die Aufnahmezeremonie vorbereitet worden seien. In globaler Hinsicht, so Dalsjö, sei der Schritt Teil von etwas viel Größerem und schließe den „langen Abschied Schwedens von der Neutralität“ ab. Dies sei ein Prozess, der mit dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er-Jahre begann, als Schweden sein Etikett abwarf und sich um eine EU-Mitgliedschaft bewarb.

Ulf Kristersson, Regierungschef einer Mitte-Rechts-Koalition, der sich seit seinem Amtsantritt als Premierminister im Oktober 2022 mit der NATO-Frage beschäftigt hat, quittiert erleichtert, am Ziel zu sein. Seine Moderate Sammlungspartei verzeichnet gerade relativ niedrige Umfragewerte, ganz anders die Sozialdemokraten und die rechtsnationalen Schwedendemokraten, von denen das Mitte-Rechts-Kabinett toleriert wird. Kristersson sieht sich an der Seite des neuen NATO-Mitglieds Finnland als Akteur einer nordeuropäischen Machtbasis, die im transatlantischen Gefüge kein Statist sein will.

Miranda Bryant ist Nordeuropa-Korrespondentin des Guardian

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Miranda Bryant | The Guardian

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