Die unangenehme Wahrheit im Fall Gil Ofarim

Meinung Wär der Musiker Gil Ofarim im Hotel wirklich antisemitisch angegangen worden, wäre dies für uns kein „Einzelfall“ gewesen. Und nun? Ist es einer?
Gil Ofarim (links) mit Anwalt im Landgericht Leipzig
Gil Ofarim (links) mit Anwalt im Landgericht Leipzig

Foto: Hendrik Schmidt/picture alliance/dpa

Natürlich muss man jetzt nicht lange suchen, um etwa auf Ex-Twitter antisemitische Häme zu finden. Stets nach dem Motto: Der Jude Gil Ofarim hat gestanden! Und jetzt kommt er mit 10.000 Euro davon? Eingestelltes Verfahren? Keine Verurteilung? Das deutsche Volk lässt sich mal wieder auf der Nase herumtanzen – und glaubt auch weiterhin an jeden jüdischen Vorwurf!

Danebenbenommen in der Hotellobby

Doch so eklig das auch alles klingt, gerade in Zeiten wie diesen: Wäre der deutsch-jüdische Musiker von einem Hotelbediensteten im Streit tatsächlich verbal am Davidstern gepackt worden, würden wir – die Progressiven – darin das „Strukturelle“ sehen, das ganz Große: All die Jahrhunderte des Antisemitismus bis hin zur Rampe von Auschwitz, die verschämte und verschwiemelte Nachkriegsgesellschaft, der Schoß ist fruchtbar noch!

Jetzt ist klar, dass es der Musiker und nicht der Empfangsmitarbeiter war, der sich vor zwei Jahren in jener Leipziger Hotellobby gehörig danebenbenommen hat. Und es herrscht erstaunliche Ruhe an unserem Ufer des Flusses.

Demonstration und Boykott

Gewiss, da es gibt einzelne, die sich kurzgefasst entschuldigen. Dafür etwa, dass sie damals spontan vor dem Antisemiten-Hotel demonstriert haben oder mit aller moralischer Verve zum Boykott jener Kette aufgerufen, zu dem das Haus in der Messestadt gehört: War es nicht vielsagend, dass sich der Laden auch noch von einer Sicherheitsfirma beschützen ließ, der man klare Kontakte in die rechtsradikale Szene nachweisen könne? Recherchemodus aktiviert, Big News von ARD bis ntv!

Selbst das Ansinnen, den Fall tatsächlich im Detail zu untersuchen statt einfach dem „Opfer“ zu glauben, hat Teile unserer Bubble damals erregt: Müsse er, der Beleidigte, den schlimmen Abend dann doch noch einmal von vorn erleben. Nun aber, nachdem sich Ofarim hochnotpeinlich entschuldigt hat für sein erfundenes Reel, murmelt man was von „Bärendienst“ und klickt sich durch zum nächsten Aufreger.

Natürlich ist der Musiker über jene Geldauflage nebst Anwaltskosten hinaus gestraft; kurzfristig zumindest droht ein Karriereknick. Und nein: Dass einer lügt, heißt nicht, dass man künftig niemand mehr glauben solle, der oder die über Diskriminierung klagt. Zugleich gibt es keinen Grund, in der Causa nun gar nichts Größeres mehr sehen zu wollen: So löblich im Grunde die Bereitschaft unserer Gesellschaft bleibt, auch denen am Rande zuzuhören, so wenig kann man eine solche Lüge prinzipiell genau zu dem erklären, was man andernfalls empört zurückgewiesen hätte – nämlich ein Einzelfall zu sein.

Fürs Notizbuch

Ins Notizbuch gehört stattdessen ein anderer Eintrag: Unsere kollektive Opfer-Sensibilisierung kann auch Pull-Effekte haben. Es ist nicht mehr so, dass derartige Klagen schon deshalb wahr sein müssen, weil so viel Mut der Verzweiflung dazu gehört, sie überhaupt vorzubringen. Wir haben denen am Rande Macht gegeben. Und müssen jetzt nicht nur realisieren, dass dort, wo diese ist, stets auch der Missbraucht droht – sondern das auch auszusprechen wagen.

Denn nichts ist ein schlechterer Ratgeber als die Angst vor dem Beifall auf der falschen Seite.

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Geschrieben von

Velten Schäfer

Redakteur „Debatte“

Velten Schäfer studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Afrikanistik in Berlin und promovierte in Oldenburg mit einer sportsoziologischen Arbeit. Nach einem Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland arbeitete er zunächst als freier Journalist. 2014 wurde er erst innenpolitischer und dann Wissenschaftsredakteur beim neuen deutschland. Anfang 2021 kam er zum Freitag, wo er sich seither im Debattenteil als Autor und Redakteur mit Fragen von Zeitgeist und Zeitgeschehen befasst.

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