Angezählt, nicht abgewählt

Bundestagswahl "Ich bleibe drin" - so ließe sich Angela Merkels "Dank" an die Wählerinnen und Wähler der Unionsparteien zusammenfassen. Aber was macht sie jetzt da drinnen?

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Ist Angela Merkel zu weit nach links gerückt?
Ist Angela Merkel zu weit nach links gerückt?

Foto: Maja Hitij/Getty Images

Vielleicht hatte Angela Merkel den Kampf ums Kanzleramt vor zwölf Jahren bereits verloren, und nur Amtsinhaber Gerhard Schröder konnte sie mit einigen Verhaltensauffälligkeiten in der "Berliner Runde" zur Bundestagswahl 2005 noch vor ihren parteiinternen Gegnern retten. Diesmal aber, in der Berliner Runde zu den Bundestagswahlen 2017, schien es, als habe Merkel einen Moment lang nicht aufgepasst und sich kenntlich gemacht.

Die Kritik an ihr kommt nicht von links. Ein namentlich gezeichneter Leitartikel der "Stuttgarter Zeitung" befindet, Merkel habe sich - nach einer schmerzlichen Wahlniederlage - am vorigen Sonntagabend überheblich verhalten. Als Kontrast dazu wird Gerhard Schröder zitiert; freilich nicht aus der legendären 2005er "Elefantenrunde" von ARD und ZDF, sondern aus dem Jahr 1999, als seine Kanzlerschaft noch jung war und lediglich ihre ersten Schrammen davongetragen hatte.

Der von der "Stuttgarter Zeitung" monierte Ausspruch Merkels lautete:

Ich hätte mir sicherlich ein etwas besseres Ergebnis gewünscht, aber ich bin nicht enttäuscht, ich danke erst einmal den Wählerinnen und Wählern, die uns die Stimme gegeben haben, und außerdem sind wir klar stärkste Kraft geworden, CDU und CSU gemeinsam, und das war eines unserer wichtigen Ziele, und das zweite Ziel ist, dass gegen uns auch keine Regierung gebildet werden kann, und deshalb haben wir riesige Aufgaben vor uns, gerade im Blick auch auf den Einzug der AFD in den deutschen Bundestag. Aber ich bin erst einmal dankbar. Wir sind zwölf Jahre --- bin ich jetzt an der Spitze einer Regierung, und da, finde ich, ist das ein Ergebnis, auf dem sich aufbauen lässt.

Da Merkel üblicherweise zwei- bis dreimal so viele Worte macht wie nötig, fällt ihre Arroganz allerdings nicht auf; anders als Schröder oder Müntefering ist sie keine Einzeilerin, die auf einprägsame Botschaften setzt. Aber in münteferingscher Kürze hätte die gleiche Botschaft ans Fernsehpublikum so gelautet:
"Strategisches Ziel erreicht - ich bin drin und muss nicht raus."

Nun wittern die ersten Kritiker die Kanzlerinnendämmerung. Bei der "Stuttgarter Zeitung" werden Erinnerungen an den Überdruss über ihren Ziehvater Kohl in der Spätphase seines Wirkens wach, und beim "Freitag" hält Lutz Herden die ganze bisherige "große" Koalition für "faktisch abgewählt" - aber dann auch wieder nicht.

Martin Schulz und die übliche Runde schneller Entscheider in der Bundes-SPD möchten gerne abgewählt sein - je klarer oder faktischer, desto besser.

Das ist begreiflich: der Bescheid, in einer "großen Koalition" mit der Union als Juniorpartner regieren zu müssen, muss sich anfühlen wie eine Tuberkuloseerkrankung in der frühen Neuzeit. Und wie seinerzeit bei TBC, weiß man in der SPD bei Groko nicht, wie man sie wieder los wird. Noch ist nicht klar, ob die Sozialdemokraten den Fluch wirklich erfolgreich abschütteln können.

Aber mit wem die Union auch koalieren mag: sie ist nicht abgewählt. Sie ist die stärkste Bundestagsfraktion, und "gegen sie" könnte nur regiert werden, wenn SPD, FDP, Linke und Grüne einen gemeinsamen Regierungsnenner fänden - sei es durch Koalition, sei es durch Tolerierungsabkommen.

Das Bedürfnis nach einer Abwahlinterpretation mag groß sein; das tatsächliche Parteiensystem lässt solche Deutungen aber selbst unter klareren Bedingungen als den vor zwei Tagen per Wahl geschaffenen nur noch selten zu. 1998 mochte man zu Recht sagen, Schwarzgelb sei abgewählt und Rotgrün sei gewählt - das waren vor sozialdemokratischer "Agenda 2010" und grünem "Wirkönnenmitallen" noch zwei deutlich voneinander abgegrenzte politische Lager.

Mittlerweile hingegen sehen sich Wählerinnen und Wähler an den sonntäglichen Schicksalsabenden zunehmend Konstellationen gegenüber, denen laut Heiner Geißler (1989) der frühere CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf vor fast dreißig Jahren entspannt entgegensah, während Geißler selbst sich damals noch nicht mit ihnen abfinden wollte: Denn ein Vielparteiensystem entmündigt insofern den Wähler, als er nicht mehr vorhersehen kann, zu welcher Regierungskoalition und damit Politik seine Stimme benutzt wird.

Aber wenn Merkel auch nicht abgewählt ist: angezählt ist sie durchaus. Hätte die "große Koalition" in etwa so abgeschnitten wie Union und SPD bei den Bundestagswahlen vor vier Jahren, hätte sich das als Auftrag zum Weiterso auslegen lassen.

Das geht nun nicht mehr. Und gleichzeitig lässt sich aus dem Wahlergebnis auch kein zwingender Auftrag zur Umsetzung eines bestimmten Programms mehr herauslesen.

Den müssen die zukünftigen Koalitionäre jetzt sorgfältig erarbeiten - nach Möglichkeit so, dass sich in absehbarer Zeit eine Mehrheit der Deutschen darin wiederfindet. Mit oder ohne Merkel.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

JR's China Blog

Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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