Politik in Sorge um driftende Mitte

Flüchtlingsdebatte Die Mitte der Gesellschaft ist zwar nicht rechtsradikal, trägt aber durchaus rechte Züge. Und Sigmar Gabriel bangt um jene, die er eigentlich erobern wollte

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Am rechten Rand: Die Mitte in Heidenau
Am rechten Rand: Die Mitte in Heidenau

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

"Am besten wäre es, diese tumben Typen, mit denen man peinlicherweise eine Nation bildet, selbst abzuschieben", so der Chefredakteur der "Dresdner Nachrichten" in einem Kommentar für den Deutschlandfunk am Samstag. Hier wird es spannend. Gott sei Dank kann man die nämlich nicht abschieben. Wenn sie Straftaten begehen, kann man sie unter bestimmten Voraussetzungen einsperren.

Staatsbürger gegen ihren Willen aus ihrem Land abzuschieben und am Wiederbetreten zu hindern: das war ein Merkmal dessen, was man heute "Unrechtsstaat" nennt. Aber muss es verwundern, dass unter den meinungsbildenden Eliten Deutschlands heute so geredet wird?

Viel leiser als die Debatte über "Hetze", "Pack" und Empörung werden andere Debatten geführt: die zum Beispiel, ob 10.865 Polizisten - sechs Prozent weniger als 2010 - genug für die innere sächsische Sicherheit seien. Gerne wird diese Frage nicht aufgegriffen: wenn ein Staat die Schwächsten in der Gesellschaft nicht mehr vor An- und Übergriffen schützen kann, weil er "sparen muss", beginnt er eben, sich für den Inhalt der Köpfe in dieser Gesellschaft zu interessieren. Das kostet nicht so viel.

N-TV zitierte am Samstag den sächsischen Ministerpräsidenten:

Zwar sei der überwiegende Teil der Menschen in Sachsen weltoffen und engagiere sich gerade jetzt auch für eine gute Aufnahme der Flüchtlinge. Doch gebe es auch eine rechte Szene und "diese Leute, die am Rand von NPD-Aufmärschen applaudieren".Solche Menschen begäben sich an den Rand der Gesellschaft, sagte der CDU-Politiker [Tillich].

Das ist für viele der Angesprochenen eine leere Drohung. Die Botschaft ist für die nichts Neues, denn am Rand stehen sie schon lange. Hingegen ängstigt die Marginalisierungsdrohung häufig diejenigen, die - womöglich gerade noch - an der Illusion festhalten, sie seien Teil einer mehr oder weniger intakten "Mittelschicht". Das Prinzip hat lange funktioniert Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel ist Meldungen zufolge besorgt, die "Mitte der Gesellschaft", könne nach rechts abdriften. Jene Mitte, die er als Deutungsort der Gesellschaft "von links erobern" wollte.

Besorgt ist er nicht zu Unrecht. Die Mitte der Gesellschaft ist zwar nicht rechtsradikal. Sie trägt aber durchaus rechte Züge. Diejenigen, die es betrifft, werden sich dessen meistens nur dann bewusst, wenn sie sich unter ihresgleichen glauben - ansonsten ist nicht Charakter, sondern Opportunismus das Hauptberuhigungsmittel für die Schläfer unter den Rechten.

Aber auf genau diesen Opportunismus, diese Charakterlosigkeit, und die Zivilfeigheit, die sich in Angriffen auf Schwächere ausdrückt, zählen Politiker oder Meinungsbildner auch dann, wenn sie dem "Pack" oder den Applaudierenden (vielleicht bezeichnet "Pack" ja beides; aber das Fernsehen hat nur selten Zeit für Fußnoten) bescheinigt, sie begäben sich an den Rand der Gesellschaft. Das zielt nicht auf Hardcore-Nazis; das zielt auf die "Mitte".

Den Deutschen, ihren Neubürgern und ihren Zuwanderern kann man unter diesen Umständen nur Mut und Glück wünschen. Erstes Gebot sollte sein, sich nicht von herangetragenen Emotionen - seien es links, rechts, kirchlich oder politisch motivierte - davontragen zu lassen. Ist das, was da spricht, die Stimme des eigenen Gewissens, oder ist es die mehr oder weniger amtlicher Machtorgane?

Wenn an führender Stelle verantwortliche Politiker ihre Weltoffenheit und Menschenfreundlichkeit entdecken, ist das kein Anlass zur Freude, sondern zur Vorsicht.

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Helldeutschland, "Migazin", 27.08.15

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