Vor gut zwei Wochen zog mein ältester Sohn aus. Vermutlich kennt jeder den Spruch, wonach man kleinen Kindern Wurzeln und großen Kindern Flügel geben solle. Es geht um ein Ethos der Elternschaft, das Kinder begleitet, sie nährt und umsorgt, die Grundlage für inneres Wachstum schafft, das schließlich in die Selbstständigkeit führt.
Wenn das älteste Kind auszieht, markiert das einen besonderen Punkt im Leben der Eltern; für mich gilt das umso mehr, weil nicht absehbar war, dass mein Sohn so zeitig ausziehen würde. Mit nur achtzehn Jahren. Als mein Sohn in die Grundschule kam, wurde bei ihm eine Autismusspektrumsstörung diagnostiziert. Viel von dem, das für die meisten Menschen selbstverständlich ist, ist es für ihn nicht.
Wenn man Mutter wird, dann bleibt rein gar nichts an einem unverändert
Ich kann kaum in Worte fassen, wie stolz ich bin, dass mein Sohn diese alltäglichen Dinge inzwischen selbstständig meistert. Zugleich muss ich akzeptieren, dass er die Dinge auf seine eigene Art erledigt. Ich muss loslassen und kapieren, dass seine Ernährung aus genau drei wechselnden Gerichten besteht und er sich hartnäckig weigert, Gemüse oder Früchte zu sich zu nehmen. Ich muss akzeptieren, dass das, was er unter Organisation versteht, auf mich ziemlich chaotisch wirkt.
Obwohl er gut zurechtkommt, stürzten mich die letzten Wochen vor seinem Auszug in tiefe Traurigkeit. Zunächst bemerkte ich gar nicht, wie sehr mich die Vorstellung mitnahm, dass er nicht mehr bei mir wohnen würde. Ich war nach dem Tod meiner Mutter in einem ganz anderen Trauerprozess befangen. Doch dann bemerkte ich, zu meiner allergrößten Verwunderung, dass der Abschied von meinem ältesten Kind schmerzhafter war als die eigentliche, echte Trauer um meine Mutter. Wie konnte das sein?
Ich kann es mir nur so erklären: Wenn man Mutter wird, bleibt nichts an einem unverändert. Die Interessen eines anderen Menschen, des eigenen Kindes, rücken für viele Jahre in den Vordergrund. Man wird eine Art von Subjekt, das nicht mehr nur nach eigenen Wünschen und Vorstellungen leben kann. Bei vielen jungen Müttern erzeugt das eine Form der Trauer, die oft unbewusst bleibt. Beinahe 20 Prozent aller Mütter leiden unter postpartalen Depressionen. Die Zahl klingt sehr hoch. Ich finde sie erstaunlich gering angesichts des ungeheuren Anpassungsprozesses, den eine junge Mutter durchmachen muss. Viele werdende Mütter schwören sich, dass sie sich von der Mutterschaft nicht verändern lassen; dass sie dieselbe bleiben werden. Ein hoffnungsloses Unterfangen.
Mein gesamtes bisheriges Erwachsenenleben habe ich als Mutter zugebracht
Als ich Mutter wurde, war ich gerade neunzehn. Neulich wurde ich mir dessen bewusst, zum ersten Mal überhaupt, dass ich mein gesamtes bisheriges Erwachsenenleben als Mutter zugebracht habe. Für mich fielen Erwachsenwerden und Mutterwerden zeitlich zusammen. Ich nehme an, viele Menschen fänden diese Vorstellung betrüblich; für mich ist sie schlicht eine Normalität. Ich habe die Mutterschaft nie als Unfreiheit erlebt.
Die Idee, die Phase der Mutterschaft mit siebenunddreißig hinter mir zu lassen, erschiene mir tragisch. Ich bin noch nicht fertig mit dem Muttern. Ich bin froh, dass ich ein kleines Kind habe, das noch einige Jahre lang versorgt werden muss. Der Abschied meines großen Sohnes ist ein kleiner Vorgeschmack auf den großen Abschied vom Muttersein. Zum Glück lässt er sich noch etwas aufschieben.
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