Kann sich noch jemand an die Hochkonjunktur jener Phrase von der „staatspolitischen Verantwortung“ um das Jahresende 2017 herum erinnern? Als die FDP die schwarz-grün-gelben Koalitionsverhandlungen platzen hatte lassen, drängten viele Journalisten und Politiker die SPD, jetzt diese Verantwortung zu schultern und in die nächste Große Koalition einzutreten – obwohl sie doch schon so tief gebeugt dahinschlurvte, unter all der Last, die sie – teils, aber nicht nur selbst geladen – auf ihren Schultern zu tragen hatte.
So ganz ist dieser Ruf selbst jetzt noch nicht verklungen – nach Wahldebakeln in Bayern, Hessen, Bremen und bei der Europawahl, nach dem Rückzug Andrea Nahles' von allen Ämtern und im Lichte der trüben großkoalitionären Gegenwart. Die CDU appelliert nun, es brauche vor allem eines, „Stabilität“ – und darum die Fortsetzung dieser Regierungskoalition. Diese Appelle sind binnenlogisch nachvollziehbar, denn vorgezogene Neuwahlen stehen im Raum. Und bei denen müsste eben nicht nur die SPD einen weiteren bedeutenden Verlust an Parlamentsmandaten befürchten. Die Erosion des alten und die Formatierung eines neuen Parteiensystems in Deutschland sind in vollem Gange.
Das geht schon lange so
Und dass dieser Wandel eben nicht erst seit gestern, sondern schon eine ganze Weile im Gange ist, darüber können auch augenblicklich medial durchschlagende Ereignisse wie der Nahles-Rücktritt oder womöglich bald das vorzeigte Ende der schwarz-roten Koalition nicht hinwegtäuschen. Die Grünen als stärkste Partei – in Baden-Württemberg ist das seit 2011 Realität. Die Debatte über das Ende des Daseins einer Volkspartei als solcher ist auch alles andere als neu.
Darum ist es jetzt eigentlich nicht von allzu großem Interesse, ob Thorsten Schäfer-Gümbel, Manuela Schwesig und Malu Dreyer die SPD kommissarisch führen – oder wer dies danach längerfristig zu tun versuchen wird. Spannender wird jetzt zu sehen sein, ob sich die SPD wirklich zu einem nicht von Beratermeetings und Hinterzimmern aus gesteuerten Neuanfangsversuch durchringt und dafür eben ihrer Basis tatsächlich Gestaltungsmacht zukommen lässt, wofür Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange auch nicht erst seit gestern wirbt.
Revisionsklausel ziehen
Vor allem aber steht in Frage, ob und wann sich das Bild aus immer schneller ins Rutschen geratender SPD und CDU, immer weiter aufsteigenden Grünen, einer sich stabilisierenden AfD und den jeweils irgendwo zwischen fünf und zehn Prozent tendelnden Linken und der FDP auf die Bundesebene des politischen Systems übersetzen wird – ob sich also Angela Merkel wirklich bis zum Ende der Legislaturperiode hindurchlavieren kann, weil das „Stabilitäts“-Argument noch so lange zieht, ob das dann mit gleichbleibender oder veränderter Regierungskonstellation – eine Minderheitsregierung könnte dann bald wieder ins Blickfeld der Diskussion rücken –, oder ob es eben doch bald zu Neuwahlen kommt. Eine Mehrheit für die Rezo-beschäftigte Annegret Kramp-Karrenbauer im aktuellen Bundestag scheint jedenfalls ferner denn je.
Angesagt wären baldige Neuwahlen, die Revisionsklausel im Koalitionsvertrag weist ja auch den Weg dorthin. Nicht nur, um die Sozialdemokratie endlich Verantwortung für sich selbst übernehmen, die Grünen sich unter Beweis und die CDU ihre Chefin den Wählerinnen und Wählern zur Abstimmung stellen zu lassen. Sondern letztlich auch, um über die Partei befinden zu lassen, die den heutigen Zustand, die Verlängerung des Unerträglichen großkoalitionären Weiter-so, maßgeblich zu verantworten hat: die FDP, die ja lieber nicht regieren wollte.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.