Was heißt: „Nie wieder!“?

Antifaschismus Deutsche müssen aufgrund ihrer Geschichte an der Seite Israels stehen, heißt es. Was aber bedeutet eine koloniale Vergangenheit für die Verantwortung gegenüber Palästinensern? Über Herkunft und Zerrissenheit angesichts der Krise in Nahost
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 43/2023
Nie wieder! Was bedeutet dieser Satz, wenn man sowohl Deutsche als auch Nachfahrin französischer Kolonialherren ist?
Nie wieder! Was bedeutet dieser Satz, wenn man sowohl Deutsche als auch Nachfahrin französischer Kolonialherren ist?

Foto: Maja Hitij / picture aliance/ dpa

Als ich geboren wurde, konnte ich meine linke Seite nicht richtig bewegen. Mein linker Arm und mein linkes Bein waren gelähmt. Woran es lag, das wussten die Ärzte nicht, vielleicht war ein zentraler Nerv in meinem Nacken bei der Geburt zu lange eingeklemmt gewesen. „Wird sie das lernen können?“, fragte meine Mutter. Es war unklar. Aber sie lernte bei der Pflegerin Übungen, mit denen sie meinen Arm und mein Bein trainieren sollte. Das machte meine Mutter mit mir zusammen, jeden Tag, über ein Jahr lang. „Deine Enkelin lernt schnell“, schrieb sie meiner Oma, „sie ist so süß. Wann kommst du uns besuchen, sie kennenlernen?“ „Nein danke“, schrieb meine Oma. „Schreib mir, wenn sie sich normal bewegen kann.“

Meine Oma war als Jugendliche im Bund der Deutschen Mädel. Und sie liebte es dort. Sie war als Jugendliche und junge Frau überzeugte Nationalsozialistin. Im Nachkriegsdeutschland konnte mein Vater sie zwar in zahlreichen, sehr lauten Diskussionen davon überzeugen, dass sie manche Dinge nicht mehr öffentlich sagen darf. Über Knoblauch und Charakter, zum Beispiel. Das haben wir nicht gewusst, zum Beispiel. Aber die Autobahnen, zum Beispiel. Aber die Juden, vor allem. Aber so richtig überzeugt war sie nie, dass der Nationalsozialismus und der Holocaust das schlimmste Verbrechen an der Menschheit waren, das je verübt wurde. Immerhin: Sie nahm mich in die Familie auf. Als ich meinen linken Arm bewegen konnte.

Nie wieder Faschismus: Wir stehen an der Seite Israels!

„Das ist unsere Verantwortung“, sagte mein Vater. „Das ist unsere Verantwortung als Deutsche, meine Tochter: Nie wieder! Nie wieder Großdeutschland. Nie wieder Krieg. Nie wieder Faschismus.“ So wuchs ich auf, wie so viele andere Kinder der 1968er-Eltern in Deutschland. Nie wieder, das hing von mir ab.

„Nein! Lass dir diese riesige, diese enorme Schuld auf keinen Fall aufbürden“, so wuchs ich auch auf. Die Augen meiner Mutter loderten, wenn mein Vater mich über meine historische Verantwortung aufklären wollte. „Das ist so eine deutsche Hysterie“, sagte sie, „das ist pathologisch, dieses Schuldgefühl macht alle hier krank!“ Das deutsche Schuldgefühl, war sie überzeugt, bringe nichts als Denkverbote, Sprechverbote und den Größenwahn hervor, wieder oder noch immer am Hebel der Geschichte zu sitzen. „Deine Großeltern waren Nazi“, sagte sie, „aber nicht du, meine französische Tochter. Du hast niemanden etwas getan. Du trägst keine Schuld. Merk dir das.“

Meine Mutter ist Französin, und am liebsten hätte sie mich in Frankreich groß gezogen, aber da sie sich nun einmal in einen Deutschen verliebt hatte, in Berlin, wurde dieses Versprechen nie eingelöst. Ich ging auf eine deutsche Schule, wir machten einen Schulausflug in das KZ Sachsenhausen, und ich wurde im Geist der Verantwortung deutscher Erinnerungskultur erzogen, für das „Nie wieder!“ sorgen zu müssen. Ich verstand nicht, was daran falsch sein soll. Bis ich mit meiner Mutter zum ersten Mal über den Nahostkonflikt diskutierte.

„Wir müssen an der Seite der Palästinenser stehen“

„Meine Tochter, du wirst dich sehr quälen, eine Position zu finden – meine Position aber ist klar“, sagte sie, „als Pied-Noir muss ich zu den Palästinensern stehen, aber das versteht in Deutschland niemand.“ Tatsächlich verstand das in Deutschland niemand. Meine Mutter galt hier als „Französin“, dass sie aber eigentlich in Tunesien aufgewachsen war, als Tochter eines französischen Kolonialherren mit Ländereien und einigen, natürlich arabischen, Landarbeitern und Hausangestellten, dafür gab es nie ein Bewusstsein. 1962 ist die Familie nach Frankreich zurückgekehrt – für meine damals 14-jährige Mutter war es keine Rückkehr, sondern eine Migration, weg aus ihrer Heimat.

Meine Mutter sprach nie viel darüber, was ihre koloniale Geschichte für sie bedeutete, ich spürte ihren Umgang mit ihrer Verantwortung eher emotional: „Diese Scheiß-Faschisten!“, schimpfte sie über jedes Erstarken des Front National, „sitzen in ihren Villen in Südfrankreich und denken noch immer, Nordafrika gehöre ihnen!“ Und gleichzeitig die Tränen in ihren Augen, wenn wir durch Tunesien fuhren, „das hier war mein Land“, murmelte sie, „riech, meine Tochter, riechst du den Jasmin? Das ist die Heimat deiner Mutter.“

Verständnis fand sie nur bei anderen Pied-Noirs: In den Romanen von Albert Camus spürte sie eine Verbundenheit. Beim Komiker Robert Castel lachte sie sich halb tot. Auf den Linken Jean-Luc Mélenchon setzte sie Hoffnung.

Geschichte als Vorwand für antimuslimischen Rassismus

„Als Pied-Noir muss ich zu den Palästinensern stehen“, das war alles, was meine Mutter je zu der Gewalt im Nahen Osten sagte, nicht mehr, nicht weniger.

Sie erklärte es mir nicht. Den Rassismus gegen die arabische Bevölkerung, der Voraussetzung war für die französische Kolonialherrschaft. Sie sprach nicht über die Hunderttausenden Toten des Algerienkriegs, nicht über die mindestens 120 Algerier, die 1961 auf einer Demonstration in Paris von Polizisten erschossen und in die Seine geworfen wurden, nicht über Bizerte, die französisch besetzte Militärbasis im Norden Tunesiens, wo beim tunesischen Befreiungskampf um die Übernahme der Basis 27 Franzosen umgebracht wurden. Und 600 Tunesier.

Ich sah es nur in ihren Augen, sobald es irgendwie um arabische Kultur ging, und sei sie noch so fern von der tunesischen. Wenn wir einen Minztee serviert bekamen, oder Merguez, oder gar einen Couscous, und wenn wir, was in Wilhelmshaven mehr als selten war, Menschen aus dem Libanon trafen oder aus Palästina: Dann leuchteten ihre Augen. Und wenn sie antimuslimischen Rassismus spürte, dann loderte sie. „Die Deutschen sind rassistisch“, sagte sie, „und sie nehmen ihre eigene Geschichte als Vorwand, weiter rassistisch sein zu dürfen. Glaub ihnen kein Wort.“

Da stehe ich also, zwischen „Nie wieder“ und „wir müssen an der Seite der Palästinenser stehen“. Ich lese stumm die Statements von anderen Deutschen, die aus ihrer eigenen historischen Verantwortung heraus schreiben: „I stand with Israel“, „deutsche Staatsräson“. So einfach geht für sie also „Nie wieder“? Ganz ohne Zerrissenheit?

Das Ende der Empathie ist eine Basis des Faschismus

Aus meiner französischen Geschichte habe ich etwas anderes gelernt. Ich bin nach Tunesien gefahren, ich habe es mir angeschaut, das Haus, auf dessen Dach mein Urgroßvater „seine Arbeiter“ mit einer großen Glocke von den Feldern zum Essen rief. Ich habe mit dem Tunesier gesprochen, der das Haus jetzt besitzt. Ich habe mich in die Kolonialgeschichte eingelesen. Ich habe den Rassismus gegen Menschen aus dem Maghreb gespürt, die unaufgearbeitete Geschichte, zurück in Frankreich, wo ein Präsident sich noch immer nicht entschuldigen mag. Und ich erinnerte mich daran, wie ich auch einen Rassismus gegen meine Mutter gespürt hatte, in Wilhelmshaven, verübt von Deutschen, die in der kleinen Frau mit den schwarzen Augen und schwarzen Haaren und dem Schal um den Kopf gegen den friesischen Nordwind fälschlicherweise eine „Araberin“ sahen. Und ich habe all das aufgeschrieben.

Ich bin mit einer Oma aufgewachsen, die all diese geschichtliche Komplexität in einem einfachen Satz zu verbinden wusste: „Aech, ekelhaft, wie diese Menschen nach Knoblauch stinken, nicht nur aus dem Mund, sie dünsten es ja richtig aus!“, gefolgt von einem: „Kocht deine Mutter auch viel mit Knoblauch?“

In den Worten meiner Oma und in den Worten meiner deutschen Landsleute habe ich mein „Nie wieder!“ gefunden. „Nie wieder“ darf ich, aus welchem Grund auch immer, beschließen, dass das Leid eines Menschen eine geringere Katastrophe ist als das Leid eines anderen Menschen. Der Moment, an dem wir beschließen, einem leidenden Menschen unsere Empathie zu versagen, wird zum robusten Stein im Fundament von Kolonialismus und Faschismus.

Kein Deutscher hat das Recht, sein Erbe zu instrumentalisieren, um palästinensisches Leid auszublenden. Keine Französin hat das Recht, ihr Erbe zu instrumentalisieren, um israelisches oder jüdisches Leid auszublenden. Das ist mein Nie wieder: Nie wieder darf ich einem Menschen seine Menschlichkeit absprechen.

Nach dem Massaker in Israel und vor dem Kriegsverbrechen in Gaza?

Ich habe es gebrochen. Es ist meine Verantwortung, zu den Palästinensern zu stehen, und es ist meine Verantwortung, zu Israel zu stehen, das war mir zu viel, als junge Frau. Es gab Zeiten, da habe ich beschlossen, ohne jeden Zweifel an der Seite Israels zu stehen und Sätze gesagt wie: „Ja, ok, die Palästinenser sind diejenigen, die nun unter der deutschen Geschichte leiden müssen. Das ist traurig, aber nicht zu ändern.“ Es gab Zeiten, da habe ich beschlossen, ohne jeden Zweifel an der Seite der Palästinenser zu stehen: „Die deutsche Verantwortung gilt nun für den Schutz der palästinensischen Bevölkerung, deren Leid ist gerade größer als das der Israelis.“ Es waren Zeiten, in denen meine Identität brüchig war, ich nach Eindeutigkeit und moralischer Sauberkeit durstete. In denen ich meiner Verantwortung nicht gerecht wurde.

Jetzt aber gilt es nicht, eine Identität zu finden, sondern Menschlichkeit zu schützen. Wer kein Leid ausblendet, sondern Schmerzen aufgrund des Leids aller Menschen zulässt, findet keine Eindeutigkeit, sondern nichts als Zerrissenheit.

Die Besatzung und Gewalt gegen Palästinenser über 70 Jahre rechtfertigt kein Massaker an Zivilisten. Und: Ein Massaker an Zivilisten rechtfertigt keine Kriegsverbrechen gegen Zivilisten. Und: Kriegsverbrechen gegen palästinensische Zivilisten rechtfertigen keine Übergriffe gegen Synagogen oder jüdisches Leben. Und: Übergriffe gegen Synagogen und jüdische Einrichtungen rechtfertigen keine Verbote palästinensischer Flaggen, Veranstaltungen oder Kleidungsstücke. Das klingt einfach. Aber es zerreißt. Weil es Fragen hinterlässt: Wie sonst ist die Gefahr der Hamas für jüdisches Leben zu bannen, als durch ihre Zerschlagung? Wie ist palästinensischer Widerstand gegen die Besatzung und Fremdbestimmung friedlich möglich, wenn auch Boykott-Kampagnen inakzeptabel sind, weil sie Antisemitismus schüren? Wie können wir jüdisches Leben in Deutschland schützen? Wie können Palästinenser in Deutschland ihre Stimme erheben?

Die Situation ist brandgefährlich, und jetzt ist unsere Verantwortung gefragt. Unsere Verantwortung als Enkelin von Nazis und von Kolonialherren gleichermaßen: Einfach unsere Verantwortung als Mensch, aus unserer Geschichte heraus. Jetzt ist die Zeit, Geschichte nicht als Schutzschild vor neuer Verantwortung zu missbrauchen, sondern als Möglichkeit, aus verpassten Verantwortungsübernahmen zu lernen, und so die Geschichte verantwortlich voranzubringen, statt sie zu wiederholen. Geschichte zu wiederholen, das hieße für mich: Die einen Menschen auszublenden in der Fehlannahme, die anderen Menschen auf diese Weise besser zu sehen. Diese falsche Entscheidung treffe ich: Nie wieder.

Die richtige Entscheidung ist die, die zerreißt. Immer wieder.

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Geschrieben von

Elsa Koester

Redakteurin „Politik“, verantwortlich für das Wochenthema

Elsa Koester wuchs als Tochter einer Pied-Noir-Französin aus Tunesien und eines friesischen Deutschen in Wilhelmshaven auf. In Berlin studierte sie Neuere deutsche Literatur, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach einigen Jahren als selbstständige Social-Media-Redakteurin absolvierte sie ihr Volontariat bei der Tageszeitung neues deutschland. Seit 2018 ist sie Redakteurin für Politik beim Freitag, seit 2020 für das Wochenthema und die Titelseite zuständig. Sie schreibt am liebsten Reportagen von den Rändern der Republik und beobachtet mit großer Spannung die Umgestaltung des politischen Systems im Grünen Kapitalismus.

Elsa Koester

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