Das Geheimnis der Seegurke: Wie eine asiatische Delikatesse die Welt von morgen verändert

Reportage Der Hunger nach Meerestieren wächst, doch Raubbau und Klimawandel bedrohen die Bestände und das Überleben von Millionen von Fischerfamilien. In Madagaskar setzt eine Kooperative auf nachhaltige Aquakultur. Hoffnungsträger: eine Meereswurst
Ausgabe 09/2024
Im Fischerdorf Ambolomailaka, im Südwesten Madagaskars, werden Seegurken gezüchtet
Im Fischerdorf Ambolomailaka, im Südwesten Madagaskars, werden Seegurken gezüchtet

Fotos: Fabian Weiss

Ihr Vermögen wächst im Ozean. Im Schein des Vollmondes geht Evelyne Razdwamalala zum Strand, durch das Hüttenlabyrinth von Ambolomailaka im Südwesten Madagaskars. Auf dem Kopf balanciert sie einen leeren Plastikbottich. „15 Monate haben wir auf diese Nacht gewartet“, sagt sie. So lange dauert es, bis die Seegurken in ihren Gehegen die volle Größe erreicht haben. „Mit dem Geld, dass ich jetzt verdiene, kann ich endlich wieder Schulgebühren für meine Kinder und Enkel zahlen.“ Am Strand wartet sie mit den anderen Frauen darauf, dass sich das Meer zurückzieht. Immer schwerer werde es für die Familien, mit dem Fischen allein genug zu erwirtschaften, sagt sie, immer weniger Fische gebe es. Aber die Zucht der Seegurken, eines mit Seestern und Seeigel verwandten Meerestieres, soll das Überleben ihrer Familie sichern.

Blue New Deal

Die Serie „Blue New Deal“ ist ein Projekt von drei freien ReporterInnen – Svenja Beller, Julia Lauter und Martin Theis – und einem Fotografen, Fabian Weiss. Im Freitag werden sie ein Jahr lang nach Lösungen suchen, die sowohl die Ozeane schützen als auch deren Potenzial nutzen, die Erderwärmung zu stoppen.

Alle Artikel zur Serie finden Sie unter freitag.de/blue-new-deal

Das Projekt wird vom European Journalism Centre (EJC) über den Solutions Journalism Accelerator finanziert. Dieser Fonds wird von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt. Alle Reisen werden kompensiert.

Farmen im Meer sollen weltweit drängende Probleme lösen: Mit Artensterben und Klimawandel nimmt die Biomasse im Ozean ab, außerdem sind rund ein Drittel der kommerziell genutzten Fischarten überfischt, 57 Prozent stehen an der Grenze dazu. Das Schwinden der Wildbestände bedroht Ökosysteme genauso wie das Einkommen von Millionen von Fischerfamilien. Gleichzeitig steigt die Nachfrage. Die Weltbevölkerung wächst – und seit den 1960er Jahren hat sich der Fischkonsum pro Kopf verdoppelt. Aquakulturen sind deshalb der am schnellsten wachsende Lebensmittelsektor weltweit. Mittlerweile kommt jeder zweite Fisch auf unseren Tellern aus der Zucht. Dabei werden mit Monokulturen, dem Einsatz von Chemikalien und Ausbeutung meist die Fehler der Landnutzung wiederholt. In Madagaskar soll ausgerechnet eine Aquakultur mit Seegurken den Weg in eine bessere Zukunft weisen.

Die Frauen stehen auf und klopfen sich den Sand von den Kleidern. Mit schwimmenden Bottichen waten sie ins dunkle Meer hinaus. Vor ihnen liegen 16 Felder, je 4.500 Quadratmeter groß, getrennt durch Zäune unter Wasser. In gleichmäßigen Abständen ragen Hochsitze empor. „Wir müssen die Seegurken Tag und Nacht bewachen“, sagt Evelyne Razdwamalala. Immer wieder fallen bewaffnete Banden aus dem Landesinneren über die Küstendörfer her. Bei einem Raubzug vor einigen Monaten wurden ihr Vater und zwei ihrer Brüder durch Schüsse getötet. Seitdem trägt sie noch mehr Verantwortung für die Großfamilie. Betet noch öfter zu Jesus Christus. Ob ihr Einkommen wegbricht oder stabil bleibt, entscheidet über die Lebensläufe der nächsten Generation.

Ein Kilo getrocknete Seegurken kann in Asien bis zu 1.500 Euro einbringen

Ob sie schonmal eine Seegurke gegessen hat? Evelyne Razdwamalala lacht: „Nein, das ist nichts für uns. Wir wissen nicht einmal, wie man die zubereitet.“ Der Katalog bekannter Seegurken umfasst über 1.700 Varianten unterschiedlichster Erscheinung. Meist aber sind sie zumindest in Größe und Form einer Gurke nicht unähnlich. Sie haben kein Skelett, ihre Organe sind umgeben von einem Hautmuskelschlauch sowie besonderem Bindegewebe, das zwischen hart und weich changieren kann. Manche Arten leben am Grund der Tiefsee, andere in Küstenregionen. Nur wenige gelten als genießbar. Vor Madagaskar ist die gräuliche Holothuria scabra heimisch, die in den tropischen Breiten des Pazifischen Ozeans vorkommt und das Pech hat, in Asien als Delikatesse zu gelten.

Seegurken in ihrer ganzen Pracht

Foto: Fabian Weiss

Evelyne und die anderen madagassischen Aquafarmer hier arbeiten im Auftrag der Firma Indian Ocean Trepang (IOT). Trepang ist das indonesische Wort für eine getrocknete Seegurke, wie sie in Asien rehydriert und in Suppen serviert wird. Es verweist auf eine lange Handelstradition: Im 18. Jahrhundert war die indonesische Insel Sulawesi der größte Umschlagsplatz für Seegurken, die hauptsächlich nach China verschifft wurden. Bei Westlern löste die gallertartige Speise stets Unverständnis aus. Der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace etwa beschrieb sie dem Aussehen nach als „in Schlamm gewälzte und anschließend den Kamin hinuntergeworfene Würstchen.“ Doch ein Kilo getrocknete Seegurken kann in Asien, je nach Art und Qualität, um die 1.500 Euro einbringen. Laut IOT werden die Exemplare der Zucht zwischen 400 und 700 Euro pro Kilo gehandelt.

Das Wasser steht Evelyne Razdwamalala bis zur Schulter, als sie zu suchen beginnt. In den Gehegen wurden 3.500 Seegurken ausgesetzt, jede braucht etwas über einen Quadratmeter Platz. Tagsüber graben die Tiere sich in den Sand, abends kommen sie wieder zum Vorschein. Mit den bloßen Füßen tasten die Frauen den Grund ab. „Mein Vater hat mit wilden Seegurken früher viel Geld verdient“, sagt Razdwamalala. „Wir haben sie gefangen und an französische Händler verkauft.“ Mit etwa neun Jahren habe sie die Schule verlassen und sei ihm zum Fischen gefolgt. Das Meer versprach eine Zukunft, bis die Seegurken fast verschwunden waren. Mit ihnen verschwanden auch die Händler.

Sie kneift die Augen zu und taucht ab. Mit einer wasserspuckenden Seegurke – so lang wie ihr Unterarm – kommt sie wieder an die Oberfläche. Ein Tier nach dem anderen landet in den Bottichen der Frauen. Morgen werden die Männer mit ihren Einbäumen auf das Feld hinausfahren und nach den verbliebenen Seegurken tauchen. Zusammen werden sie die ausweiden, abkochen und schrubben, bevor IOT sie abholt. Den Gewinn teilen die 45 Mitglieder der Kooperative von Ambolomailaka untereinander auf. Der letzte Zyklus habe ihr 150.000 madagassische Ariary eingebracht, sagt Evelyne Razdwamalala. Das sind etwa 30 Euro – genug, um ein Kind ein Jahr lang zur Schule zu schicken.

In Ambolomailaka gibt es eine Seegurken-Kooperative mit 45 Mitgliedern

Foto: Fabian Weiss

Entlang der Küste südlich der Stadt Toliara sind bereits 570 Familien aus sechs Dörfern involviert. Die Firma IOT hat dort Unterwassergehege auf 670.000 Quadratmetern gebaut, setzt die Jungtiere darin aus und kauft den Einheimischen die erwachsenen Seegurken wieder ab. In einer Fabrik werden sie getrocknet, für den Export nach Hongkong und Singapur verpackt, von dort aus in ganz Asien verkauft. Sie gelten als Superfood, sollen Krebs stoppen, bei Bluthochdruck helfen und – ja – auch die Potenz steigern. Weil sogar ein Fünfjähriger diese Tiere fangen könnte, sind die begehrten Arten beinahe ausgerottet – wie die Holothuria scabra vor Madagaskar.

Damit die Art aber leben kann, muss manches Männchen sterben. In einer zum Labor umfunktionierten Militärstation in Toliara entnimmt ein IOT-Mitarbeiter Gewebeproben der Exemplare, die sich vor ihm in einem Becken winden. Gelbes Gewebe heißt weiblich, weißes heißt männlich. Fünf Männchen werden aufgeschnitten, ihre Samen mit einer Spritze abgesaugt. In einem Wasserbecken werden die Brutweibchen dann wechselnden Temperaturen ausgesetzt. Diese Simulation einer Lebensgefahr triggert ein uraltes Programm: Die Weibchen bäumen sich auf wie pummelige Kobras. Aus der Öffnung am Kopfende entlassen sie nun ihre Eier, um im Falle ihres Ablebens die Population zu retten. Im Wasser werden diese von den beigemischten Samen befruchtet.

„Willkommen in der Brutstation“, sagt Loïc Gaumez, Produktionsmanager von IOT. Der 28-jährige Franzose führt uns durch die Hallen, in denen die Tiere in mehreren Becken verschiedene Lebensstadien durchlaufen, von der Larve zum Embryo, dann zum Jungtier. Aufgezogen werden die Seegurken hier mit leuchtend grünen Flüssigkeiten – frischem Meerwasser mit eigens gezüchteten Mikroalgen aus dem Labor. Das Verfahren der künstlichen Fortpflanzung und Aufzucht hätten Meeresbiologen von der Universität Toliara in Zusammenarbeit mit zwei belgischen Universitäten entwickelt, sagt Gaumez. Heute kämen Wissenschaftler und Unternehmer aus aller Welt, um von IOT zu lernen. In China, Indonesien oder Sri Lanka wollen sie – mit jeweils heimischen Arten – Brütereien nach madagassischem Vorbild aufbauen.

Die Brutstation der Firma Indian Ocean Trepang (IOT)

Foto: Fabian Weiss

Loïc Gaumez hat Meeresbiologie in Frankreich studiert und schreibt hier seine Doktorarbeit über Seegurken. Er sagt, er sei von ihnen fasziniert. Davon, wie sie sich fortpflanzen in ihrer Kobraposition, in der in freier Wildbahn auch Männchen ihre Samen absondern. Von ihrer Treibfähigkeit, dank der sie die Strömung nutzen. Davon, wie sie angesichts eines Fressfeindes ihre Innereien ausspucken, quasi zum Verzehr anbieten – und wie die Organe dann im Falle ihres Überlebens nachwachsen. Einst kam Gaumez für ein Praktikum zu IOT. Dann blieb er, überzeugt. „Die pflegeleichten Seegurken eignen sich hervorragend für die Zucht“, sagt er. „Und der soziale Nutzen ist in dieser Dimension einmalig.“

Im Außenbereich der Brüterei liegen Pools, so weit das Auge reicht. Hier werden die Embryos zu Jungtieren herangezogen. Gaumez greift in ein Becken und holt eine Seegurke hervor, etwa so lang wie sein kleiner Finger. „Wenn sie dieses Stadium erreicht haben, sind sie bereit für die Gehege“, sagt er. Jährlich verlassen 400.000 Tiere die Anlage. Etwa ein Viertel davon geht in die Dörfer, der Rest wird in der Farm von IOT ausgesetzt. Die Kriminalität in der Region sei aktuell die größte Herausforderung: „Von den Dörfern bekommen wir etwa die Hälfte der Seegurken ausgewachsen zurück. Der Rest wird gestohlen.“ An einigen Gehegen habe die Polizei jetzt Stützpunkte eingerichtet, um die Wachen zu unterstützen.

Die Firmenfarm, in der professionelle Techniker und Taucher arbeiten, ist mit mehr als zwei Quadratkilometern viermal so groß wie die Felder der Dörfer zusammen. Dank ihr ist die Seegurkenzucht ein wirtschaftlicher Erfolg. „In 2024 werden wir die Produktionsflächen unserer Farm sowie der Dörfer nahezu verdoppeln“, sagt Gaumez. Das bedeutet 100 zusätzliche Mitarbeiter, zu den 200, die jetzt schon für IOT arbeiten. In fünf Dörfern entstehen weitere Gehege auf rund 600.000 Quadratmetern, finanziert durch US-amerikanische Entwicklungshilfe. Dadurch können noch einmal rund 500 Familien von den Farmen profitieren. Die Seegurken sind dabei, eine ganze Region zu verändern.

Studien zeigen: Seegurkenzucht hat keine negativen Folgen für die Umwelt

Der Boom in Madagaskar entspricht einem weltweiten Trend. In den vergangenen drei Jahrzehnten ist die Produktion von Meeres- und Süßwasserfarmen jährlich im Schnitt 6,7 Prozent gewachsen. In 2021 lieferten sie rund 91 Millionen Tonnen Tiere – die meisten davon Fische – und 35 Millionen Tonnen Algen. Auch wenn die Wachstumsrate langsam sinkt: Bis zum Jahr 2050 könnten zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben, sie zu ernähren wird ohne weitere Meeresfarmen nicht möglich sein. Eine Studie in der Wissenschaftszeitschrift Nature kam zu dem Ergebnis, dass der gesamte heutige Wildfang von Meerestieren auf nur 0,015 Prozent der globalen Ozeanfläche in Aquakulturen produziert werden könnte. Soweit die Theorie.

In der Praxis sind Aquakulturen ein schmutziges Geschäft.

Ein Großteil der Produktion entfällt auf Länder des Globalen Südens, über 91 Prozent allein auf Asien. Lasche politische und juristische Rahmenbedingungen führen zur Ausbeutung von Arbeitskräften, Wasserverschmutzung, Verbreitung invasiver Spezies sowie Krankheiten und dem Verlust mariner Ökosysteme an Küsten – etwa, wenn Mangrovenwälder abgeholzt werden, um Platz für Fischgehege zu schaffen. Ein Teil des verabreichten Futters verbleibt im Wasser, was zur sogenannten „Eutrophierung“ führt, einer Anreicherung von Nährstoffen, durch die manche Wasserpflanzen explosionsartig wachsen und anderen Organismen den Sauerstoff entziehen.

Der Meeresbiologe Gildas Todinanahary von der Universität Toliara im Südwesten Madagaskars arbeitet an alternativen Wegen, den Ozean zu nutzen. „Unsere Aquakulturen sind nicht die Ursache für Umweltzerstörung“, sagt der 37-jährige. „Sie sind eine Art, ihr zu begegnen.“ Sein Institut für Fischerei- und Meereswissenschaften hat die künstliche Befruchtung der Seegurken und ihre Aufzucht zu Jungtieren mitentwickelt und patentiert. Er nimmt uns in seinem Jeep mit Vierradantrieb mit, aus der Stadt die Küste entlang in Richtung Süden. Dorthin, wo das Verhältnis zwischen Mensch und Ozean neu ausgehandelt wird.

Gefährdete Lebensräume retten

Todinanahary hat das Meer auf unzähligen Tauchgängen erkundet. Er sagt, er vermisse die atemberaubende Unterwasserwelt, seit er den wissenschaftlichen Nachwuchs in Toliara auf die Feldforschung vorbereite, statt selbst hinauszuziehen: „Madagaskar ist eines der artenreichsten Länder der Erde. Wir haben eine große Vielfalt mariner Ökosysteme, von Korallenriffen über Mangrovenwälder und Seegraswiesen, bis hin zu Sumpfgebieten.“ Doch das Paradies ist bedroht. Erwärmung und Übersäuerung infolge des Klimawandels gefährden die Lebensräume. Großen Einfluss hätten aber auch die Einheimischen: Etwa indem sie den Urwald des Landes abholzen, wodurch die Böden austrocknen und Flüsse immer mehr Sediment ins Meer spülen. Indem sie in empfindlichen Korallenriffen mit Harpunen nach Fischen jagen. Und indem sie dem Meer mehr Tiere entnehmen als auf natürlichem Wege nachwachsen können.

Die Seegurke soll das ändern.

Bisherige Studien zu den Seegurken-Aquakulturen hätten keine negativen Umweltfolgen gezeigt. Mit weniger als einem Tier pro Quadratmeter ist der Eingriff in das Ökosystem minimal, die Beimischung von Chemikalien ist nicht nötig. Seegurken benötigen im Gehege kein Futter, so verschmutzen keine überschüssigen Nährstoffe im System. Die Tiere pflügen sich durch den Sand, schlucken ihn, ernähren sich von kleinen Organismen und zerfallenden Pflanzenresten darin, bevor sie ihn gesäubert wieder ausscheiden. In marinen Ökosystemen erfüllen sie eine wichtige Filterfunktion, essenziell für das Überleben von Korallen. Die Seegraswiesen entlang der Küste sind dank der Aquakultur zu einem Schonraum geworden, in dem sich auch andere Arten ansiedeln. „Ich glaube, es ist möglich, Ökosysteme mithilfe von Aquakulturen wiederzubeleben“, sagt Todinanahary.

Wir biegen auf eine Halbinsel und fahren durch ein Sandbett. Dahinter liegt Sarodrano, wo der soziale Wandel seinen Anfang nahm. Das Dorf ist bei Flut vom Meer umschlossen, Einbäume sind hier das einzige Fortbewegungsmittel. Die Einheimischen vom Fischervolk der Vezo leben mit dem Ozean wie mit der Luft, die sie atmen. Die Experimente mit Aquakultur begannen in den 1990er Jahren, als die wilden Seegurken hier fast ausgerottet waren. Nachdem die Methoden für Befruchtung und Aufzucht ausgereift waren, überzeugten die Forschenden der Universität Toliara die Fischer von der Zusammenarbeit. Es blieb nicht bei den Seegurken.

Das Dorf Sarodrano im Südwesten Madagaskars

Foto: Fabian Weiss

Auf Drahtgittern am Strand trocknen Rotalgen, für deren Anbau es nicht mehr braucht als Pflanzenteile an Leinen, leere Plastikflaschen als Bojen und etwas Geduld. Das aus Algen gewonnene Bindemittel Carrageen findet weltweit in der Industrie Anwendung, etwa um Eiscreme oder Zahnpasta geschmeidig zu machen. Außerdem wurde in Sarodrano eine Korallenzucht aufgebaut, mit deren Zöglingen die Forschenden und die Einheimischen beschädigte Riffe vor der Küste renaturieren. So vermehren sie indirekt auch die wilden Fischbestände. „Wenn wir wollen, dass Menschen die Umwelt schonen, müssen wir ihnen Alternativen anbieten“, sagt Gildas Todinanahary. Das Kultivieren verschiedener Pflanzen und Tiere in unmittelbarer Nähe zueinander sei ein zukunftsweisendes Prinzip: „Wir nennen es Polykultur. Dabei nehmen wir uns die Nährstoffkreisläufe der Natur zum Vorbild.“

Die Arten einer Polykultur sollten in der Gegend natürlich vorkommen – und auf unterschiedlichen Stufen der Nahrungskette stehen. „Algen wachsen durch Fotosynthese, Teile der Pflanze sinken zu Boden und zerfallen im Sediment, wo sie zum Futter für Seegurken werden“, erklärt Todinanahary. „Die Fische wiederum ernähren sich unter anderem von Algen.“ Studien zeigen, dass Seegurken größer werden, wenn sie in der Nähe von Algen leben. Umgekehrt wirkt sich die verbesserte Wasserqualität durch Seegurken positiv auf das Wachstum von Algen aus. Und mehr Algen bedeuten mehr Fischfutter – also mehr Fische. Eine Win-win-win-Situation. Todinanahary betont, das sei die vereinfachte Darstellung eines hochkomplexen Systems: Die Forschung zu den zahlreichen Anwendungsmöglichkeiten, mit Muscheln, Schalentieren und Fischkäfigen, stehe noch am Anfang. Im Dorf aber entfaltet die Polykultur schon ihre Wirkung.

Der Ozean ermöglicht den nächsten Generationen sozialen Aufstieg

Der Meeresbiologe begrüßt den Vorsitzenden des hiesigen Seegurkenkollektivs per Handschlag. Tesiraely Tovo ist Farmer, Fischer und der katholische Priester des Ortes, der sich seine Predigten auf langen Fahrten über das Meer überlegt. „Zunächst waren die Leute skeptisch gegenüber der Aquakultur mit Seegurken“, erinnert er sich. „Sie hatten Angst, weil die Gehege leicht ausgeraubt werden können.“ Weil es jedoch immer weniger Fische gab, stimmte so mancher zu. Mit dem ersten Geld wichen die letzten Zweifel: „Wir können unsere Hütten aus Wellblech oder Stein bauen statt aus Palmblättern. Unsere Kinder gehen länger zur Schule und wenn sie krank sind, können wir uns die Medizin leisten.“ Heute könnte das Kollektiv gar nicht mehr alle Interessenten aufnehmen, was mitunter zu Konflikten führe.

Im Schatten der Palmen vor der Wellblechhütte fläzen Tovos 17-jähriger Sohn Filgance und die 10-jährige Tochter Françoise. Mutter Lizy knotet kleine Teile von Rotalgen an eine Leine, die sie später im Meer aufziehen wird. Mit dem letzten Seegurkenfang haben sie dank der Größe ihrer Felder immerhin 500.000 Ariary verdient, etwa 100 Euro. „Der Nachteil ist die lange Wartezeit, bis die Seegurken ausgewachsen sind und wir Geld bekommen“, sagt sie. „Doch dank der Aquakultur ist es für uns leichter geworden, etwas zu leihen.“ Die Leute wüssten, dass die Familie das Geld irgendwann zurückzahlen kann. So müssen die Kinder der Farmer nicht wie früher die Schule abbrechen, wenn über ein paar Wochen hinweg weniger Fische ins Netz gehen. Die Algen, die von verarbeitenden Unternehmen eingekauft werden, helfen zusätzlich, das Einkommen zu stabilisieren.

Ihre Kinder hält das Ehepaar von der Arbeit fern. „Das Leben der Fischer und Farmer ist hart“, sagt sie. „Unsere Kinder sollen etwas anderes lernen.“ In einem Alter, in dem die Vorfahren längst mitverdienen mussten, geht der 17-jährige Filgance auf die höhere Schule im nahen Saint Augustin und schreibt die besten Noten seiner Klasse. Er sagt, er wolle später Polizeichef werden. Seine kleine Schwester kann sich ein Leben als Hebamme vorstellen. Der älteste Sohn der Familie hat die Schule schon abgeschlossen und arbeitet im Hotel des Nachbarortes. Die Aquakulturen markieren eine Zäsur in der Geschichte der Vezo: Weil der Ozean den nächsten Generationen einen sozialen Aufstieg ermöglicht, ist die Arbeit mit dem Meer nur noch eine Option unter vielen.

Seegurkenzüchterin Evelyne Razdwamalala und der katholische Priester Tesiraely Tovo

Foto: Fabian Weiss

Die Forschung an neuen Formen von Aquakulturen läuft weltweit auf Hochtouren. Das Prinzip Polykultur ist etwa die Basis für die „Integrierte Multitrophe Aquakultur“ (IMTA), bei der bis zu vier Arten auf unterschiedlichen Stufen der Nahrungskette kultiviert werden. Dabei werden gefütterte Arten wie Fische oder Shrimps mit filternden Arten wie Muscheln, Seegurken oder Makroalgen zusammengehalten, welche die Ausscheidungen der gefütterten Art aufnehmen. In Laboren gelingt so bereits eine nahezu optimale Nutzung hinzugefügter Nährstoffe, ohne dass Rückstände dem Ökosystem schaden oder toxisches Abwasser produzieren. Die IMTA eignet sich vor allem für kleinbäuerliche Betriebe wie in Sarodrano und könnte Familien im Globalen Süden helfen, sich aus der Armut zu befreien.

Die gesellschaftlichen Hürden scheinen dabei ungleich höher als die technischen: „Der Ozean wird als Allgemeingut verstanden“, sagt Gildas Todinanahary. „Es ist schwer, bestimmte Bereiche für Aquakulturen zu reservieren und für Fischerei zu sperren.“ Die neue Praxis stünde oft jahrhundertealten Traditionen entgegen und es fehle an rechtlichen Grundlagen. Um ein neues Bewusstsein zu schaffen, müssten Wissenschaft, Politik und die beteiligten Gemeinschaften eng zusammenarbeiten. „Es ist höchste Zeit, dass die internationale Gemeinschaft handelt, anstatt nur zu reden“, sagt er. „Sie sollte mehr in lokale Projekte investieren. Dort werden Lösungen für globale Probleme entwickelt.“

Auf dem Rückweg in die Stadt liegt die Forschungsstation seines Instituts. Derzeit wird sie renoviert, die Pools und Aquarien stehen leer. Hier begannen einst die Versuche mit den Seegurken. Und von hier aus will Gildas Todinanahary sein Wissen ab diesem Jahr in die Welt hinaus tragen: Fünf Jahre hintereinander werden je 20 Stipendiaten aus dem Globalen Süden hier lernen, wie sie in ihren Heimatländern Zuchten von Seegurken, Algen, Korallen und anderen Arten aufbauen können. Wie sich Ökosysteme dank Polykulturen regenerieren. Und wie die Dorfbevölkerung an den Küsten neue Wege gehen kann.

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Geschrieben von

Martin Theis

Freier Autor

Martin Theis ist freier Reporter mit dem Schwerpunkt Klimawandel. Er studierte Rhetorik in Tübingen und besuchte die Reportageschule in Reutlingen. Seit zehn Jahren schreibt er für Magazine im deutschsprachigen Raum. 2023 erschien sein Buch Endzeitreise - Als mein Sohn mich fragte, wann die Welt untergeht im Tropen Verlag. Darin begibt er sich an die Fronten der Klimakrise und auf Expedition zu den eigenen Wurzeln in der VW-Stadt Baunatal.

Martin Theis

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