Afrika: Die Demokratie hatte ihre Chance. Stirbt sie nun?

Regierungsmodell Wenn 2024 in 19 afrikanischen Ländern Wahlen anstehen, liegt die Zukunft des Kontinents in den Händen der jüngeren Generation. Die ist vom Versagten ihrer gewählten Führer und angesichts prekärer ökonomischer Perspektiven wütend
Ausgabe 10/2024
Dakar im Februar 2024: Der senegalesische Präsident Macky Sall hatte versucht, an der Macht festzuhalten.
Dakar im Februar 2024: Der senegalesische Präsident Macky Sall hatte versucht, an der Macht festzuhalten.

Foto: Guy Peterson/AFP/Getty Images

Djbril Camara erinnert sich gut daran, dass er dachte, dies sei die brisanteste Demonstration, die er je erlebt habe. Fast ununterbrochen war der Abschuss von Tränengas-Granaten zu hören. Um sich besser zu schützen, war Djbril auf das Dach seines Wohnhauses gestiegen, während unter ihm der Tumult kochte. Menschen kreischten und versuchten hektisch, sich in Sicherheit zu bringen. Tränengasschwaden zogen über das Stadtviertel Niary Tally in der senegalesischen Kapitale Dakar. Auf der Straße lag ein menschlicher Körper. „Immer wieder versuchten Demonstranten, ihn zu bergen, jedes Mal, wenn sie sich dem offenbar Verletzten näherten, zielte die Polizei von Neuem mit Gassalven in ihre Richtung“, erzählt Djbril, während sich sein älter Bruder Omar auf den Weg zum Sonnenuntergangsgebet in der nahen Moschee macht. „Dieser Protest hatte einen verrückteren Sound als die vorangegangenen. Und das will etwas heißen“, findet Omar.

Jahrzehntelang wurde der Senegal dafür gelobt, eine Ausnahme zu sein, ein Leuchtfeuer der Freiheit im Unruheherd Westafrika. Seit Anfang Februar hat es den Anschein, als sei ein Bollwerk der Demokratie auf die schiefe Bahn geraten und dabei, sich in ein autoritäres Regime zu verwandeln. Am 25. Februar hätte die Welt beobachten sollen, wie das Land eine faire Wahl mit mehreren Kandidaten für die künftige Präsidentschaft abhält. Stattdessen stürzte die Entscheidung des bisherigen Staatschefs Macky Sall, an der Macht festzuhalten, indem er das Votum auf Ende 2024 verschieben ließ, das Land ins Chaos. Der Verfassungsrat hat das am 16. Februar für gesetzwidrig erklärt und Macky Sall zum Einlenken gezwungen, der nun doch mit dem Ende seiner Amtszeit am 2. April abtreten will. Doch Warnungen verstummen nicht, dass sich Sall an Nachbarstaaten ein Beispiel nehmen und das Militär zu seiner Unterstützung rufen könnte.

Ein Putsch als Ausweg

Seit 2020 wurde in der Sahelzone, in West- und Zentralafrika neunmal geputscht. Es sei damit zu rechnen, dass diese Tendenz so schnell nicht abreißen werde, warnen Experten wie Ebenezer Obadare, Senior Fellow am britischen Council on Foreign Relations. Nach seinem Eindruck wird das Experiment einer liberalen Demokratie auf dem afrikanischen Kontinent zum ersten Mal seit 25 Jahren einem derartigen Realitätscheck unterzogen. Eine Generation von Afrikanern, die mit der Erfahrung dieser Demokratie aufgewachsen sei, sehe sich mit stagnierenden Volkswirtschaften und geringen sozialen Chancen konfrontiert. „Die Vorstellung, dass die Demokratie den Menschen auch Waren und Wohlstand bringt, hat sich nicht erfüllt.“

Olayinka Ajala, der an der Leeds Beckett University Internationale Politik lehrt, konstatiert ebenfalls, dass Afrikas jüngere Generation von der Demokratie enttäuscht ist. „Das Durchschnittsalter liegt derzeit bei 19,6 Jahren. Es ist geradezu verrückt: Viele Afrikaner sind gut ausgebildet und haben Zugang zu den sozialen Medien. Sie alle fragen sich: Wie kommt es, dass wir uns weiter in dieser prekären Lage befinden?“

Wahltag in Südafrika: Stürzt der ANC?

Die Frage stellt sich für den zweitgrößten Kontinent der Welt in einer kritischen Zeit. Neunzehn Präsidentschafts- und Parlamentswahlen stehen 2024 an und werden viele der noch bestehenden Demokratien in den kommenden Monaten beeinflussen, wenn nicht in Mitleidenschaft ziehen. Ganz oben auf der Liste steht die Regionalmacht Südafrika, die als am besten entwickelte Ökonomie des Kontinents weiterhin entlang von Rassen- und Klassenschranken gespalten ist. Mit der Parlamentswahl am 29. Mai steuert das Land auf den knappsten Wahlausgang seit Überwindung der Apartheid vor 30 Jahren zu. Einst gefeiert und von Nelson Mandela geführt, dürfte der African National Congress (ANC) – so jüngste Umfragen – bei diesem Urnengang seine Mehrheit verlieren. Auch in Mosambik, Ghana, Mauretanien, Tunesien und Namibia stehen wichtige Entscheidungen an. In Ruanda wird zwar offiziell ebenfalls gewählt, aber dort ist die Macht denen garantiert, die sie bereits haben. Besonders erschreckt das Abrutschen des Senegal. Es gäbe da etwas, „das Kopfzerbrechen bereitet“, so Ebenezer Obadare. „Senegals Lage wirft eine grundlegende Frage auf. Stirbt die Demokratie in Afrika? Ist sie an vielen Orten bereits tot?“

Er war bekannter Rapper und Gegner von Macky Sall

Zurück zu Djbril und Omar Camara, die von einem für sie besonders tragischen Ereignis unter Macky Salls unpopulärem Regime im Juni 2023 erzählen. Es sei in ihrem Viertel Niary Tally schon dunkel gewesen und sie hätten ihren Bruder vermisst, als eine Gruppe maskierter Polizisten der örtlichen Wache auftauchte. „Sie behaupteten, gerade erst auf Patrouille gegangen zu sein und nichts von einer Schießerei zu wissen“, erinnert sich Omar. Er habe in den folgenden 24 Stunden mit Djbril in vielen Polizeirevieren und Krankenhäusern vergeblich nach Bruder Baba Khan gesucht. Von der Polizei wurde bestritten, etwas über ihn zu wissen. Wenn man versuchte, ihn anzurufen, war Baba Khans Telefon angeschaltet und es klingelte. Der 38-Jährige, Vater einer siebenjährigen Tochter, war ein bekannter Rapper mit einer schnell wachsenden, stark politisierten Anti-Macky-Sall-Gemeinde. Er hatte sich am Tag zuvor auf dem Markt seines Viertels kurz mit einem Freund treffen wollen. „Das Letzte, was er wollte, war eine Demonstration“, versichert Djbril, während er auf Baba Khans einstigem alten Bett in einem winzigen Apartment sitzt.

Dann schickte ihnen ein Nachbar ein Video, auf dem Polizisten zu sehen waren, die einen Körper über den Boden schleiften. Wie sich schnell herausstellte, spielte sich das an einem Ort ab, der nur gut 400 Meter vom Haus der Brüder entfernt liegt. Auf dem Video erkannten Omar und Djbril die Dreadlocks ihres Bruders. Er schien noch am Leben zu sein. Es war zu sehen, dass er zuckte, wenn die Beamten ihn anstießen. Stunden später dann hörten sie vom Personal einer nahe gelegen Feuerwehrstation, dass ihnen Polizisten eine Leiche übergeben hätten, die Baba Khan ähnelte. Sie gaben an, den Körper auf der Straße gefunden zu haben, der anschließend in die Leichenhalle des Dalal-Jamm-Krankenhauses gebracht wurde.

Eingebetteter Medieninhalt

Djibril: „Dort sprach ein Arzt mit uns und meinte, die Polizei habe erklärt, es handle sich um einen unbekannten Toten, vermutlich das Opfer eines Überfalls. Wir wollten ihn sehen und stellten fest, dass es mein Bruder war. An seinem Körper befanden sich überall Sandreste. Man konnte noch Spuren von Schweiß erkennen. Als er starb, muss seine rechte Hand eine tiefe Wunde auf der linken Seite seines Körpers bedeckt haben, als hätte er versucht, die Blutung selbst zu stoppen.“ Mit der Nummer 5519 versehen und auf den 7. Juni 2023 datiert, bestätigt Baba Khans Totenschein, dass er an einer Schusswunde starb. Dem Dokument ist weiter zu entnehmen, dass man am Körper Verletzungen festgestellt habe, die darauf hinwiesen, dass er über den Boden geschleift und geschlagen wurde. Es habe sich um keine Tragödie der Art gehandelt, dass jemand zur falschen Zeit am falschen Ort war, davon ist die Familie überzeugt. Baba Khan wurde als Gegner des Präsidenten Macky Sall durch einen Schuss – eine gezielte außergerichtliche Tötungsaktion – zum Schweigen gebracht.

Die Zustimmung zu Militärherrschaften wächst

Wenn eine Demokratie in Agonie fällt, halten sich Regime in der Regel weniger zurück, Bürger zu misshandeln oder einzusperren. Auch werden Kritiker notfalls ausgeschaltet. Bei den jüngsten Unruhen, die im Senegal auf die erst gestundete, dann wieder zugelassene Präsidentenwahl folgten, wurden mindestens drei Menschen erschossen, so das offizielle Eingeständnis. Der Analyst Alex Vines, der seit 2002 das Afrika-Programm der britischen Denkfabrik Chatham House leitet, kommt zu dem Schluss, dass sich im zurückliegenden Jahrzehnt der geopolitische Wettbewerb um Staaten wie den Senegal verstärkt habe. Inzwischen seien auch Länder wie Russland eingestiegen, „die durch Falschinformationen Unruhe stiften“. Für die Wahlkämpfe in Afrika zeichne sich für 2024 ab, dass autokratische Regime die Demokratie als Regierungsmodell in Verruf bringen wollen. Das gehe zum Teil aus Umfragen hervor, die erkennen ließen, dass der Gedanke, die Demokratie zu ersetzen, auf dem Kontinent mehr Anhänger finde.

Das Meinungsforschungsinstitut Afrobarometer stellte fest, dass in 24 von 30 Ländern die Zustimmung zur Idee einer Militärherrschaft seit 2010 gewachsen ist und nur 38 Prozent der Befragten „Zufriedenheit mit der Demokratie“ äußerten. Ebenezer Obadare verweist auf große Menschenmengen, die – manchmal Flaggen Russlands schwenkend – den Sturz gewählter Führer feiern, nachdem Generäle die Macht übernommen haben.

Mark Townsend ist Redakteur des Observer und preisgekrönter Auslandsreporter.

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Übersetzung: Carola Torti
Geschrieben von

Mark Townsend | The Guardian

Der Freitag ist Syndication-Partner der britischen Tageszeitung The Guardian

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