Diplomatie des Spagats: Das Ausmaß der Vergeltung nach dem Hamas-Angriff hat Grenzen

Nahost US-Außenminister Antony Blinken hat auf seiner Tour durch das Kriegsgebiet durchaus etwas zu verlieren. Deshalb sollten die USA von ihrer Afghanistan-Expertise zehren: Eine Feuerpause in Gaza sollte er wenigstens erwirken
Ausgabe 45/2023
Kein leichter Besuch: Antony Blinken bei seiner Ankunft in Tel Aviv
Kein leichter Besuch: Antony Blinken bei seiner Ankunft in Tel Aviv

Foto: Jonathan Ernst/Pool/AFP/Getty Images

Es schien ein surrealer Moment anberaumt. Nach seinem Treffen mit Benjamin Netanjahu erklärte Antony Blinken vor Tagen, dass sich die Gründung eines palästinensischen Staates mitnichten erledigt habe. Sie liege weiter auf dem Tisch. Als Realpolitiker gab sich der US-Außenminister damit nur insoweit zu erkennen, als daraus die reale Befürchtung sprach, dass den USA in Nahost die Felle davonschwimmen. Ansonsten wirkte der Zwei-Staaten-Bezug eher irritierend. Kein anderer israelischer Politiker mit Regierungsmacht im Rücken hat über Jahrzehnte hinweg mehr dafür getan, ein solches Agreement zu verhindern als Benjamin Netanjahu. Davon abgesehen war das Gerede über die Zwei-Staaten-Lösung stets eine Gewähr dafür, dass alles so bleibt, wie es ist. Wenn Blinken die Option bemüht, klingt das demzufolge nicht so, als wollte er Netanjahu öffentlich brüskieren. In dessen Händen liegt schließlich nach der in den USA geltenden Lesart des Gazakrieges das Schicksal Israels. Das Zwei-Staaten-Argument ist vielmehr geeignet, Netanjahu in dem zu bestärken, was er gerade tut.

António Guterres: „Friedhof der Kinder“

Anders wäre es, würde ein US-Außenminister erklären, als israelischer Staat haltet ihr die Westbank seit über einem halben Jahrhundert besetzt – es wäre an der Zeit, wenn ihr den Menschen dort Rechte einräumt, die denen israelischer Staatsbürger entsprechen. Stattdessen suggeriert Blinken mit dem Zwei-Staaten-Plädoyer, was wir wollen, sagen wir frei heraus, können es aber leider nicht durchsetzen. Gemeint ist: Was wir zu wollen vorgeben, wollen wir nicht unbedingt und schon gar nicht gegen den Willen Israels, wer auch immer dort regiert.

Diese eindeutige Zweideutigkeit der US-Nahostpolitik nötigt Blinken zu einer Diplomatie des Spagats zwischen Israel auf der einen, den Palästinensern wie arabischen Staaten auf der anderen Seite. Nicht nur in Zeiten des Krieges setzt das einen Minister und seine Mission einer Zerreißprobe aus. Blinken kann die Zwei-Staaten-Platte auflegen, so oft er will: Die aufgebrachten Gemüter der arabischen Führer und Völker wird sie kaum besänftigen. Denn über eines muss nicht spekuliert werden: Je länger der Gazakrieg dauert, je mehr er auf Kosten der Zivilbevölkerung geführt wird, desto stärker wird sich der Schwund an moralischem Beistand für Israel auch zuungunsten der USA auswirken.

Das Zeitfenster für das Verständnis dieser Art von Vergeltung nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober ist nicht ewig geöffnet. Es kristallisiert sich heraus, dass die israelische Armee die Hamas und ihre Verbündeten nicht zerstören kann, ohne große Teile Gazas und seiner Bevölkerung zu zerstören. UN-Generalsekretär António Guterres nannte die Kriegszone soeben einen „Friedhof der Kinder“. Gleichzeitig lassen Netanjahus Minister wie Amichay Eliyahu, Ressortchef für kulturelles Erbe, Vernichtungsfantasien freien Lauf und fabulieren über den Abwurf einer Atombombe auf Gaza. Offenbarungen wie diese setzen Blinken zusätzlich unter Druck.

Treffen mit den Außenministern Jordaniens, der Arabischen Emirate, Saudi-Arabiens, Katars und Ägyptens

Mit etwas gutem Willen konnte man bei seinem Treffen mit den Außenministern Jordaniens, der Arabischen Emirate, Saudi-Arabiens, Katars und Ägyptens in Amman eine vorsichtige Annäherung erkennen. Deren Forderung nach einer sofortigen Waffenruhe lehnte Blinken zwar ab, aber „humanitäre Pausen“ und mehr Schutz für die Zivilbevölkerung in Gaza wollte er schon. Ein US-Außenminister kann nicht eine Woche lang durch ein Kriegs- und Krisengebiet touren, ohne nicht wenigstens das zu erwirken. Eine befristete Feuerpause ist das Mindeste, was Blinken zustande bringen muss, um seinem Zwei-Staaten-Bekenntnis ein Minimum an Glaubwürdigkeit zu erhalten.

Dabei sollten die Chancen so schlecht nicht stehen, Israel von der Aussichtslosigkeit zu überzeugen, mit kriegerischer Vehemenz und Völkerrechtsbruch eine Region befrieden zu wollen. Blinken könnte das mit amerikanischer Afghanistan-Expertise unterfüttern. Sie besagt, „Terrorismus“– wenn man denn den Widerstand der Taliban gegen Fremdbestimmung so klassifizieren will – lässt sich nicht bannen, indem man eine ganze Bevölkerung terrorisiert.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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