Gazakrieg: Eine Rückkehr zum Status quo ante ist nicht mehr möglich

Waffenruhe Der Druck auf Israel wächst, ein befristetes Schweigen der Waffen zu gewährleisten. Das Kriegsziel der Hamas besteht vermutlich auch darin, die israelische Armee als Reaktion auf den 7. Oktober zu vergleichbaren Grausamkeiten zu veranlassen
Palästinenser durchsuchen am 7. November 2023 nach einem Luftangriff Israels auf Rafah im Süden des Gazastreifens die Ruinen eines zerstörten Hauses.
Palästinenser durchsuchen am 7. November 2023 nach einem Luftangriff Israels auf Rafah im Süden des Gazastreifens die Ruinen eines zerstörten Hauses.

Foto: Abed Rahim Khatib/Picture Alliance/dpa

Das Ausmaß der Zerstörung und des Leidens, das die Bevölkerung im Kriegsgebiet erleidet, wird immer krasser. Umso lauter werden international die Rufe nach einem Waffenstillstand oder zumindest einer „humanitäre Pause“. Wäre das denkbar? Könnte eine Feuerpause den Weg zum Frieden ebnen?

Im Sudan hat das nicht funktioniert

Dies klappt – wie ein Friedensprozess überhaupt – nur dann, wenn beide Kriegsparteien dazu bereit sind, ein Schweigen der Waffen zu respektieren und sich daran zu halten. In Gaza erscheint das wenig wahrscheinlich. Im Sudan sind zuletzt vergleichbare Versuche kläglich gescheitert. In Äthiopien kam es in der Provinz Tigray im November 2022 erst dann zu einer Waffenruhe, als beide Seiten bis zur Erschöpfung gegeneinander gekämpft hatten, was Zehntausende von Menschenleben kostete. Schließlich dürften die israelische Regierung wie auch die Hamas davon ausgehen, dass sie mehr davon profitieren, wenn die Kämpfe andauern, als wenn sie in diesem Augenblick abgebrochen werden.

Das Kriegsziel der Hamas – sie hat es nie ausgesprochen, davon zu reden, ist daher spekulativ – besteht vermutlich darin, Israel als Reaktion auf den 7. Oktober zu solchen Grausamkeiten zu veranlassen, dass es international an Unterstützung verliert und gezwungen ist, den Palästinensern größere Zugeständnisse zu machen.

Die Bilder sind eindeutig

Sie könnten in der Akzeptanz einer wirklich autonomen Regierung bestehen. Denn je länger die Kämpfe andauern, desto schwächer wird Israels moralische Position, sogar einige Israelis erkennen das inzwischen. Eine Tatsache ist auch, dass die israelische Armee die Hamas nicht zerstören kann, ohne Gaza zu zerstören. Wenn das geschieht, riskieren Benjamin Netanjahu und seine Regierung das Verständnis im Ausland selbst zu untergraben.

Die Bilder sind eindeutig: Ein Großteil des Gazastreifens liegt bereits in Trümmern, seine Bewohner leben in Angst vor dem drohenden Tod, wo auch immer sie Zuflucht suchen. Daher sind die Argumente für eine „humanitäre Pause“ oder für „Pausen“, wie sie in der UN-Resolution vom 27. Oktober gefordert werden, schwer zu widerlegen. Aus Gründen der Menschlichkeit wie auch wegen des Motivs, internationalen Beistand zu erhalten, sollte Israel dafür sorgen, dass Nahrungsmittel, Wasser, Medikamente die Menschen in Gaza so schnell wie möglich erreicht.

Unruhen im Westjordanland

Es kommt als Beweggrund hinzu, dass es die Gefahr von Unruhen im Westjordanland gibt, ein direkter Konflikt mit der Hisbollah und die kriegerische Ansteckung einer ganzen Region drohen. Sie erhöhen den internationalen Druck, die Kämpfe zu beenden. Die Hamas hat sich körperlich und geistig so stark in der Gemeinschaft Gazas verankert, dass der israelische Angriff den ihr zuteilwerdenden Rückhalt eher stärkt als schwächt. Ein zur Verzweiflung getriebenes Volk wird verzweifelte Taten unterstützen.

Im Übrigen hat der Hamas-Angriff vom 7. Oktober die Annahme der israelischen Regierung zunichte gemacht, dass eine wachsende palästinensische Bevölkerung in einem immer kleiner werdenden Gebiet dauerhaft an den Rand gedrängt werden kann.

Palästinenser haben keine Wahl

Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) vermochte in dieser Hinsicht nicht für Abhilfe zu sorgen. Innere Korruption und das Versäumnis, Wahlen abzuhalten, haben ihrer Fähigkeit geschadet, mit Israel zu verhandeln. Viele Palästinenser fühlen sich daher ermutigt, ihre Sympathien auf die Hamas zu verlagern, weil sie die einzige Partei ist, die wirklich für sie einsteht.

Nur wenige israelische Politiker haben im vergangenen Jahrzehnt mehr dazu beigetragen, die Durchführbarkeit einer Zwei-Staaten-Lösung zu untergraben, als Benjamin Netanjahu, indem seine diversen Regierungen jüdische Siedler in der Westbank beharrlich und immer energischer unterstützte. Unter der derzeitigen Rechtskoalition hat sich das beschleunigt.

Es hinterlässt bei den Palästinensern das Gefühl, dass sie keine Wahl haben, als sich zu unterwerfen oder bewaffneten Widerstand zu leisten. Eine Rückkehr zum Status quo ante ist nicht mehr möglich. Israel steht ohne kohärente Strategie für die Zukunft da.

Nicolas Westcott ist Professor für praktische Diplomatie an der Soas University of London. Er war der Direktor des Europäischen Auswärtigen Dienstes der Europäischen Union.

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Geschrieben von

Nicolas Westcott | The Guardian

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