Die "Desatanisierung" der Ukraine wird immer dringlicher

Krieg gegen die Ukraine XII Neuneinhalb Monate dauert bereits der Krieg Russlands gegen die Ukraine und es ist kein Ende in Sicht. Eine Zwischenbilanz.

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Ihre Freitag-Redaktion

1.1 Kurze Zusammenfassung von fast 10 Monaten Krieg
1.2. Wie ist die derzeitige militärische Lage?
2.1. Russlands Mobilisierungskampagne
2.2. Gründe für den Fehlschlag der russischen Offensive
2.3. Ursachen für den militärischen Misserfolg
2.4. Aktuelle Probleme der russischen Armee
3.1. Schleichende Demontage Putins?
3.2. Propaganda - Die "Desatanisierung" der Ukraine wird immer dringlicher
4. Luftalarm in der Ukraine

Seit dem 24. Februar führt Russland einen Krieg gegen die Ukraine, der allerdings in Russland nur "Spezialoperation" genannt werden darf. Zeit für eine Analyse, warum dieser Krieg nicht so verlaufen ist, wie es sich Putin und Russland vorgestellt haben.

1.1 Kurze Zusammenfassung von fast 10 Monaten Krieg

In den ersten Wochen nach Kriegsbeginn konnte die russische Armee große Geländegewinne vermelden. Im Süden wurde Mariupol eingekesselt und es wurde eine breite Landverbindung zwischen der Krym und den bereits von Russland besetzten Teil des Oblast Donezk geschaffen. Im Raum Kharkiv konnte die russische Armee im Norden bis in die Vororte eindringen, Sumy wurde nicht erobert und bei der Offensive auf Kyiv überschritt die russische Armee die Verkehrslinien zwischen Kyiv und dem Westen der Ukraine. Im Südwesten gelang der überraschendste Erfolg: Das rechts des Dnipro liegende Kherson war bereits Anfang März vollständig unter der Kontrolle der russischen Armee.

Russland hatte nun die Möglichkeit, über Mykolaiv in Richtung Odesa zu ziehen, um die Ukraine vollständig vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Auch ein großer Kessel schien sich anzudeuten. Wenn es der russischen Armee möglich gewesen wäre, die Angriffsspitzen von Mykolaiv und die westlich von Kyiv (Karte) zu vereinigen, wäre eine Versorgung des Hauptteils der ukrainischen Armee ausgeschlossen gewesen. Allerdings beträgt die Entfernung zwischen Mykolaiv und Kyiv etwa 500 Kilometer, Odesa liegt 130km von Mykolaiv entfernt. Beide Ziele konnte die russische Armee nicht erreichen.

Entscheidend im Raum Kyiv waren die Ereignisse um den Flughafen von Hostomel. Der Frachtflughafen Antonov wurde in den ersten Kriegsstunden von russischen Fallschirmjägereinheiten erobert, den einen Tag später eine aus Belarus vorrückende mechanisierte russische Einheit sichern sollte. Das gelang, jedoch war der Widerstand der Verteidiger weitaus größer als gedacht. Der Flughafen konnte nicht wie geplant für eine schnelle Umfassung von Kyiv genutzt werden. Der am 26. Februar gestartete Angriff auf den Militärflughafen Vasylkiv (30km südwestlich von Kyiv) endete zudem in einer militärischen Niederlage der russischen Fallschirmjäger.

Am 28. Februar wurde erstmals von einem ungefähr 60km langen Militärkonvoi berichtet, der sich von Belarus aus in Richtung Kyiv bewegte und nach einigen Tagen zwischen Prybirsk und Hostomel steckenblieb. Auch die Offensiven auf Sumy und Kharkiv waren erfolglos. Die russische Armee kam zwar an den Stadtrand von Kharkiv und konnte mit Raketen und der Artillerie erhebliche Schäden anrichten, aber die Eroberung der Stadt gelang nicht.

Kleinere Speznaz-Einheiten vermochten es, in Kyiv einzudringen, jedoch konnten diese zurückgeschlagen werden.

Der Gegenangriff der ukrainischen Armee begann am 16. März und führte bis Anfang April dazu, dass die russische Armee den Plan aufgab, Kyiv zu erobern und sich zurückzog. Am 28. März konnte der Flughafen Hostomel von der Ukraine zurückerobert werden, bis zum 7. April zog sich die russische Armee in teilweise verlustreiche Rückzugskämpfen aus dem Gebiet nördlich von Kyiv zurück. Mitte Mai war auch Kharkiv außerhalb der Artilleriereichweite. Russland versuchte nun, die vier Oblaste Luhansk, Donezk, Kherson und Zaporizhya vollständig zu erobern.

Die letzte erfolgreiche Offensive der russischen Armee war Anfang Juli die Eroberung der zerstörten Städte Severodonezk und Lysychansk. Der ukrainischen Armee gelang ein geordneter Rückzug nach Bakhmut. Diese Stadt konnte von der russischen Armee auch nach fünf Monaten nicht eingenommen werden.

Während bis August der ukrainischen Armee lediglich kleinere Geländegewinne gelangen, startete sie Anfang September eine überraschende Offensive östlich von Kharkiv, in dessen Verlauf auch der Fluß Oskil überschritten werden konnte und Kupiansk wieder unter ukrainische Kontrolle kam. Die Offensive auf Kherson war erwartet worden. Sie wurde monatelang mit Artillerie vorbereitet, während russische Armee große, letztlich erfolglose Anstrengungen unternahm, die rechts des Dnipro liegenden Gebiete zu verstärken. Vier Wochen nach den Scheinreferenden zog sich Russland aus Kherson zurück.

Einen genaueren Einblick des täglichen Frontverlaufs bietet diese animierte Karte, auch wenn solche Karten ein wenig die Illusion eines genauen Abbildes vermitteln. Gerade die ukrainische Armee bewegt sich oft zwischen den befestigten Stellungen der Russen und stiftet so Verwirrung. Bei der Offensive östlich von Kharkiv ließ sich oft kein exakter Frontverlauf ermitteln.

1.2. Wie ist die derzeitige militärische Lage?

Es findet eine extrem schnelle Rotation der Einheiten statt, was früher langsam war. Dementsprechend finden sich die Einberufenen schnell an der Front wieder, weil es da so eine Idee gibt, ermöglicht dadurch, dass General Surovikin {der Kommandeur der russischen Streitkräfte] ein Mandat für einen Verteidigungskrieg hat. Sie wissen, dass die Ukrainer nicht vorrücken, wenn sich jemand in der Verteidigungslinie befindet. Die Ukrainer greifen entweder an, wenn die Verteidigungslinie kaskadenartig zusammenbricht, alle geflohen sind, oder wenn sie alle an diesem Ort niedergemäht haben. Dementsprechend kam jemandem in den Sinn, dass es möglich ist, eine lebende Linie zu bauen, bis die Ukrainer sie niedermähen, werden sie nicht vorrücken. Es ist dieses Lebendige, das gebaut wird.
Yulia Latynina, 29. Oktober 2022

Großräumige Offensiven sind seit Mitte November im gesamten Frontgebiet für beide Seiten nicht möglich. Der Nachschub an die Front wird für beide Seiten durch den Schlamm stark behindert und der Verschleiß an Waffen, Gerät und Fahrzeugen ist besonders hoch. Ein weiteres Problem für die russische Armee: Ihre Aufklärungsdrohne Orlan-10 funktioniert nicht bei Minustemperaturen, was zur Folge hat, dass die russische Arufklärung an der Front praktisch blind ist.

Zur Zeit verstärkt Russland seine Angriffe auf Bakhmut. Auch nach fünf Monaten gelang es der russischen Armee nicht, die Stadt zu erobern. Die Schlacht um Bakhmut hat längst den Charakter eines Stellungskrieges wie im 1. Weltkrieg angenommen. Avdiivka wird von der russischen Armee seit Kriegsbeginn erfolglos angegriffen, am 7. Dezember wiederholt mit weißem Phosphor.

Meduza stellte am 25. November fest: "Nach der Beschädigung der Krymbrücke im Oktober wurde die gesamte Truppenversorgung in der Südukraine 'eingestellt'", da die Krymbrücke für den Schienenverkehr bis zum nächsten Sommer nicht genutzt werden kann. Die Versorgung über Land funktioniert nicht, da die durch den Krieg zerstörte Bahnlinie durch den Oblast Zaporizhya nie wiederhergestellt wurde. Zudem führt ein Teil der Strecke nur 5-7km an der Frontlinie vorbei.

Anfang Dezember wurden der Militärflughafen Engels nahe der Stadt Saratow und der Flugplatz Djagiljewo bei Rjasan und einen Tag später der Flughafen in Kursk mit Drohnen angegriffen. Seit Wochen war über den Wahrheitsgehalt der Ankündigung der ukrainischen Rüstungsfirma Ukroboronprom spekuliert worden, Angriffsdrohnen mit einer Reichweite bis zu 1000km und einer Nutzlast bis zu 75kg produzieren zu können. Der Militärflughafen Engels-2 ist der einzige Standort, auf dem der Überschallbomber Tupolev Tu-160 starten und landen kann und gilt als einer der wichtigsten Stützpunkte der atomaren Luftflotte Russlands. Die angerichteten Schäden dürften eher gering sein. Schwerer wiegt die Verunsicherung Russlands, dass die ukrainische Armee in der Lage ist, mit eigenen Waffen Angriffe über solche Distanzen durchzuführen. Engels ist einer der Flughäfen, auf denen die Bomber starten, die ukrainische Städte mit Raketen beschießen. Ein solcher Angriff wurde von dem ukrainischen Journalisten Juriy Kazyanov am 1. Dezember auf Telegram und auf Facebook angekündigt und gefordert. Auf Facebook wurde es als Verstoß gegen die "Gemeinschaftsstandards" gewertet und gelöscht.

2.1. Russlands Mobilisierungskampagne

Das Ergebnis der Mobilisierung ist, dass ungeschulte Jungs an die Front geworfen werden.
Anastasia Kashevarova (Telegram, 13. Oktober 2022)

Am 21. September verkündeten Putin und Shoigu als Antwort auf die erfolgreiche Offensive der ukrainischen Armee östlich von Kharkiv eine Teilmobilmachung. Die russische Armee wurde laut Putin um 318000 Mobilisierte verstärkt.

Bis zur Teilmobilisierung setzte sich die russische Armee außer aus Berufssoldaten aus folgenden Gruppen zusammen:

⦁ Minderheiten kleinerer Volksgruppen

⦁ Zwangsmobilisierung in besetzten ukrainischen Gebieten

⦁ Rekrutierung in Gefängnissen

⦁ Freiwillige

Es kam vor, verurteilte Demonstranten wurden nach dem Urteil zur Armee eingezogen. Auch dann, wenn sie gegen den russischen Krieg in der Ukraine demonstriert hatten.

Der slowakische Journalist Christian Heitmann stellte fest, dass "auf einen öffentlich bekannten gefallenen Moskauer 87,5 gefallene Dagestanis, 275 gefallene Burjaten oder bis zu 350 Tuwaner kommen" (27. September 2022). Von den auf der Krym eingezogenen Mobilisierten sind 80% Krym-Tataren. Die Zwangsmobilisierung in den besetzten Gebieten wurde nach den Referendum in den besetzten Gebieten noch einmal verstärkt. In den Tagen vor dem Ausbruch des Krieges wurden in den Volksrepubliken Donezk und Luhansk Männer zwischen 18 und 55 Jahren auf offener Straße und teilweise in den Wohnungen rekrutiert.

Die russische Mobilisierungskampagne verdeutlicht auch die Aufkündigung des Gesellschaftsvertrages zwischen Putin und seinem Volk. Dieser Gesellschaftsvertrag erinnert an die Ära Chrushchov und vor allem von Breshnev. Die Herrschenden bieten einen privaten Raum und einen kleinen Wohlstand für das Volk an, dafür können die Herrschenden ungestört ihre Macht ausüben und ihren Geschäften nachgehen. Insbesondere unter Breshnev und unter Putin bedeutete dies auch ungestörte Korruption.

Kasachstan ist seit 1991 ein unabhängiger Staat. Jeder Versuch, Kasachstan durch die rosarote Brille des kolonialen und imperialen Denkens zu betrachten, ist ein Akt der Respektlosigkeit und Aggression gegenüber den Bürgern Kasachstans.
Memo für Russen, die nach Kasachstan kommen, 4. Mai 2022

Schon zu Kriegsbeginn flüchteten Hunderttausende aus Russland, weil sie die Aufkündigung dieses unausgesprochenen Gesellschaftsvertrages erwarteten. Die Fluchtbewegung intensivierte sich noch einmal, nachdem die Teilmobilisierung ausgerufen wurde. Russland dürfte innerhalb dieses Jahres mindestens eine Million Erwerbstätige verloren haben. Die Zahl ist schwer zu schätzen. Einen Eindruck kann man von der Zahl der Reisenden abschätzen, die die Grenzen offiziell überschritten haben. Jedoch befinden sich bis heute auch viele Russen noch in den besetzten georgischen Gebieten Süd-Ossetien und Abchasien, die hoffen, auf illegalem Weg das Land verlassen zu können, um der Mobilisierung zu entgehen.

Der russische Botschafter Alexei Borodavkin warf Kazakhstan "Russophobie" und die Unterdrückung der russischen Kultur und Sprache vor. Ebenso diagnostizierte er in Kazakhstan Faschismus. Dieses Statement sorgte in Kazakhstan für große Empörung, aber auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken befürchtet man, Russland wolle das Rad der Geschichte zurückdrehen und sieht die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des eigenen Staates durch den russischen Imperialismus bedroht.

Was wollen Sie uns diktieren? Sie leiden an Demenz. Gehen Sie! Die Kashchenko-Klinik [bekannte Psychiatrie in Moskau] wartet auf Sie! Russophobie ist alles, was Sie mit Ihren dummen Aktionen erreicht haben? Sie waren es, die mit Feuer und Schwert in das Haus eines anderen eingebrochen sind.
Arman Shuraev, 8. Dezember 2022

Man kann in dieser Flucht die Erwartung vieler Russen sehen, wie der Krieg gegen die Ukraine verlaufen wird. Sie befürchten eine deutliche Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage, möglicherweise auch einen langen Krieg und eine weitere Einschränkung ihrer Freiheit in Russland. Es scheinen aber viele zu flüchten, die einen russischen Sieg über die Ukraine begrüßen und Russland als Imperium sehen, welches über die Nachbarn herrschen sollte. Zahlreiche Berichte aus Kazakhstan und Georgien belegen dies. Georgien hatte viele Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen, weil sie das Z-Symbol auf dem Auto hatten oder die Flüchtlinge entsprechende Symbole auf ihrer Kleidung trugen. Man kann daher die Flüchtlingswelle durchaus als Zustandsbeschreibung der russischen Armee deuten.

Und viele, die überlebt haben, verlieren nach dem, was passiert ist, den Verstand. Niemand will zurück.
Aleksei Agafonov (Guardian, 7. November 2022)

Anfang November erschien ein Interview mit dem Mobilisierten Aleksei Agafonov. Er wurde zusammen mit 570 anderen am 16. Oktober mobilisiert. Alle wurden am 1. November in die Nähe von Makiivka abkommandiert. Noch in der gleichen Nacht wurde diese Einheit angegriffen. Den Angriff der ukrainischen Armee überlebten nur 130 Mobilisierte. Es gibt zahlreiche Videos über Beschwerden von Mobilisierten, in denen sie die unzureichende Versorgung mit Waffen, Nahrung und Medizin beklagen. Ende September kam es in vielen russischen Städten zu Engpässen in den Apotheken, da Verwandte und Freunde für Mobilisierte große Einkäufe tätigten. Beschwerden von Mobilisierten über eine unzureichende Ausbildung hört man ebenfalls oft.

Die Hoffnung Putins, dem Krieg gegen die Ukraine mit dieser Teilmobilisierung eine Wende geben zu können, dürfte sich kaum erfüllen. Sie erhöht aber die Möglichkeit einer Parallele zur Februarrevolution 1917, als Arbeiter in den Munitionsfabriken in St. Petersburg einen Streik begannen und viele Soldaten an den Fronten meuterten.

2.2. Gründe für den Fehlschlag der russischen Offensive

Bis heute ist nicht vollständig klar, wieso der als "Spezialoperation" bezeichnete Angriff der russischen Armee scheiterte. Sicher ist, Russland hat den Widerstandswillen der ukrainischen Armee und der Bevölkerung vollkommen unterschätzt. Einer der Gründe könnte sein, dass Putin wie ein KGB-Angehöriger in den Kategorien einer Spezialoperation denkt, aber nicht in der Lage ist, militärstrategisch zu denken. Einige Fehler erinnern zudem an die der Roten Armee während des Winterkriegs 1939/40 gegen Finnland sowie an die der deutschen Wehrmacht 1941 gegen die UdSSR.

Betrachtet man den 60km langen Militärkonvoi genauer, werden einige Mängel in der russischen Armee klarer. Ein offensichtliches Problem ist es, dass der Nachschub der russischen Armee hauptsächlich über das Eisenbahnnetz transportiert wird. Kraftstoff- und Lebensmittelknappheit, schlechte Fahrzeugwartung, schlechte Planung, Desorganisation, das Wetter und die Topographie sowie ukrainische Angriffe auf den Konvoi werden als Gründe genannt, weshalb der Konvoi nie seine Zielorte erreicht hat.

⦁ Schlechte Fahrzeugwartung: Russische LKWs werden oft jahrelang unter freiem Himmel geparkt und nie bewegt. Das führt dazu, dass durch die Sonnenstrahlung die Reifen porös und einseitig belastet werden. Bei einer ordentlichen Wartung werden die Fahrzeuge gelegentlich bewegt, um die Lebensdauer der Reifen zu verlängern

⦁ Schlechte Planung, Wetter & Topographie: Eines der großen Probleme der deutschen Wehrmacht war der Nachschub vor allem während der Schlammperiode. Ein ähnliches Wetter herrschte im Februar und Anfang März nordöstlich von Kyiv mit ähnlichen Resultaten für die russische Armee, was eine Partisanentaktik stark begünstigt

⦁ Desorganisation: Die russische Armee ist hierarchisch aufgebaut, was dazu führt, der Generalstab vertraut seiner eigenen Armee nicht. Eigeninitiative vor Ort von niederen Rängen ist unerwünscht.

Zudem besitzt die russische Armee keinerlei Luftüberlegenheit und die Piloten verlegen sich wie ihre ukrainischen Kollegen auf frontnahe "Spray & Pray"-Angriffe. Um nicht in die Reichweite der gegnerischen Flugabwehr zu geraten, zieht der Pilot seine Maschine vor dem Abschuß der Luft-Boden-Raketen hoch, um auf Kosten der Präzision die Reichweite der Raketen zu erhöhen. Was eine Luftwaffe anrichten kann, die nicht von einer feindlichen Luftabwehr behindert wird, zeigte sich im zu etwa 95% zerstörten Mariupol.

2.3. Ursachen für den militärischen Misserfolg

Seit den 1870er Jahren zeichnete das russische Militär aus, Kriege mit massenhafter Mobilisierung sowie mit einer starken Artillerie zu führen. An dieser Doktrin änderte sich während der UdSSR-Zeit nichts. Ebenso bildet die hierarchische Befehlskette eine Konstante, die Kommandeure vor Ort kaum oder keine Freiheit für schnelle Entscheidungen auf dem Schlachtfeld lässt. Ein weiteres Problem ist die Dedovshchina (Herrschaft der Großväter). Wehrpflichtige werden durch ältere Soldaten schikaniert und es kommt oft zu Misshandlungen.

2008 wurde unter dem ein Jahr zuvor ernannten Verteidigungsminister Anatoly Serdyukov unter anderem als Reaktion auf die Leistungen der russischen Armee im Krieg gegen Georgien eine große Militärreform eingeleitet. Die Ziele waren die Bekämpfung von Korruption und Ineffizienz in der russischen Armee, die Straffung der aufgeblähten Kommandostruktur aus der Sowjetzeit, bei der alle Entscheidungen höheren Rängen vorbehalten blieben. Die russische Armee war wie die Rote Armee auf einen starken und viel zu großen Generalstab fokussiert. Ein Mangel bestand immer darin, ausreichend Personal für die Ausbildung von Soldaten zu besitzen.

Serdyukov war der erste Zivilist auf dem Posten des Verteidigungsministers und er versuchte, mit einem Team ziviler Buchhalter 30% der Zentralverwaltung einzusparen und die Zahl der aktiven Offiziere zu halbieren. Ein weiteres Ziel war es, eine effektive und kleine Berufsarmee zu schaffen und sich vom altbewährten Konzept der Massenmobilisierung zu verabschieden.

2012 wurde Serdyukov auf Druck des Generalstabs entlassen. Die Armeeführung erwies sich als zu starker Machtfaktor im russischen Staat und setzte sich durch. Als Nachfolger wurde Sergej Shoigu ernannt, der als Minister des Katastrophenschutzes seit 1994 große Erfolge bei der Modernisierung vorweisen konnte. Shoigu setzte vor allem auf die Bildung von Spezialeinheiten, die zum Beispiel bei der Besetzung der Krym, aber auch in Syrien und in Kazakhstan Anfang 2022 zum Einsatz kamen. 2014 wurde auch die Gruppe Vagner von Prigozhin aufgestellt.

Es kristallisierte sich die Schlussfolgerung heraus, dass die russische Armee nicht reformierbar war. Stattdessen wurden neue Militäreinheiten geschaffen. In Russland existieren schon seit der Zarenzeit drei Säulen der Macht: Armee, Geheimdienst und Organe der inneren Sicherheit (Miliz). In diese Richtung kann man auch die Schaffung der Nationalgarde sehen, die einzig dem Präsidenten unterstellt ist.

Egal, welche Art von 'Super-Turbo-Wunderwaffen' die VKS in Form von Su-30, Su-34 und Su-35 erhält, sie wurde nie dazu bestimmt, nie trainiert und daher nie dazu gebracht, mehr mit diesen zu tun, aber sie im Auftrag von Bodentruppen und zur Unterstützung von Bodentruppen einzusetzen. Verbesserte Fähigkeiten spielten für die Generäle des GenStab keine Rolle.
Tom Cooper, 2. Dezember 2022

Ab 2014 wurden die Ausbildungsnormen und Standards in der Armee wieder zurückgesetzt und die klassische hierarchische Struktur galt wieder zwischen Generalstab und Armee. Dies gilt auch für die Rüstungsindustrie. Die größte Panzerfabrik der Welt Uralvagonzavod produziert seit Kriegsbeginn keine neuen Panzer wie den gefürchteten Armata T-14, sondern beschränkt sich darauf, alte Panzer wie den T-64 oder T-72 wieder instandzusetzen.

Weitergehende Analysen zu diesem Thema findet man auf der Seite des bpb.

2.4. Aktuelle Probleme der russischen Armee

Der Verrückte lebt in seinem eigenen Delirium, dies ist sein individueller „Lebensraum“ und es ist sonst niemand da. Aber wenn ein Herrscher verrückt wird, muss nur sein Land in seinem Delirium leben. Aber wenn er einen Krieg führt wie Putin, dann entsprechend auch die Menschen, die er angegriffen hat. Und dann verwandelt sich sein Wahnsinn in Schläge gegen das Energiesystem, Bucha oder Mariupol.
Yulia Latynina, russ. Journalistin, 6. November 2022

Zu Beginn des Krieges existierte keine zentrale Leitung der Militäroperationen. Am 10. April wurde Aleksandr Dvornikov zum Leiter ernannt. Er wurde am 8. Oktober von Sergey Surovikin abgelöst. Beide besaßen den Ruf, eine harte Führung der Militärkampagnen zu bevorzugen. Die Ursache für das Fehlen einer zentralen militärischen Leitung zu Beginn des Krieges hängt mit der Illusion der russischen Führung zusammen, die Ukraine mittels eines Kommandounternehmens in kurzer Zeit einnehmen zu können.

Das britische Verteidigungsministerium schätzte den Zustand des 2016 wieder errichteten 1. Gardepanzerarmee (XXXX) nach der Teilnahme an der Schlacht um Kharkiv von Februar bis April und nach der ukrainischen Offensive östlich von Kharkiv Anfang September als stark geschwächt ein. Es werde Jahre dauern, wieder die volle Einsatzstärke zu erreichen. Im Mai wurde der Generalleutnant Kisel aufgrund der Misserfolge abgelöst

Große Verluste gab es zu Beginn des Krieges auch bei den Luftlandeeinheiten. Die Desantniki erfüllten nicht die Erwartungen. Ihrem Selbstverständnis und auch dem Ruf in Russland als schlagkräftige Eingreifarmee konnten sie nicht gerecht werden. Die 76. Garde-Luftlande-Division aus Pskov, denen man vorwirft, an den Kriegsverbrechen in Bucha beteiligt gewesen zu sein, gilt ebenso als aufgerieben wie die Marineinfanterie. Nicht nur Putin hatte vermutet, dass allein angesichts des Einsatzes aller Spezialkräfte die ukrainische Armee jeden Widerstand aufgeben würde.

Eine Überschätzung der Wirksamkeit von Spezialeinheiten in einem Krieg gibt es aber nicht nur in Russland. Auch innerhalb der NATO kommen manche Militärexperten angesichts der Erfahrungen im russisch-ukrainischen Krieg zu dem Urteil, dass die Spezialkräfte der NATO w+rden in einem Ernstfall ebenfalls innerhalb der ersten zwei Wochen aufgerieben werden.

Der Import von Artilleriemunition aus Nordkorea und von Drohnen aus dem Iran deutet auf eine weitere Schwachstelle in diesem Krieg hin. Selbst der Munitionsvorrat der UdSSR, den man für nahezu unendlich hielt, scheint neben der Moral der Soldaten und der logistischen Unterstützung zu einem immer größeren Problem zu werden. Hinzu kommt noch der finanzielle Aspekt. Putins ehemaliger Wirtschaftsberater Andrej Illarionov weist auf die schrumpfenden Gold- und Währungsreserven Russlands hin. Russland verfügte kurz vor Kriegsbeginn über 643,2 Mrd. Dollar. Bis Mitte Oktober waren 102,5 Mrd. Dollar davon aufgebraucht. Das ergibt 16% geringere Reserven an Gold- und Währungsreserven. Allerdings hat Russland auf etwa 300 Mrd. Dollar keinen Zugriff, da diese im Ausland eingefroren sind, was einen Schwund von etwa 30% ergibt, da zu Kriegsbeginn nur noch knapp 350 Mrd. Dollar zur Verfügung standen.

Der Haushaltsetat für Russland, der ohnehin in den letzten Jahren undurchsichtig war, wies in der Planung im September 2022 für 2023 Gesamtausgaben in Höhe von 29 Billionen Rubel vor. 6,5 Billionen Rubel (112 Mrd. Dollar) wurden nicht öffentlich klassifiziert und sind in nicht öffentlichen Sitzungen von beiden Kammern des Parlaments ratifiziert worden. Die Steigerung der Militärausgaben gegenüber dem Vorjahr betragen 43%, die der Ausgaben für die innere Sicherheit sogar um 50%. Was nur mit einer Neuverschuldung von 50 Mrd. Euro zu stemmen ist, denn die Wirtschaftskraft Russlands ist rückläufig, was geringere Einnahmen für den Haushalt bedeutet. Interessant ist auch der Plan, die Getreideexporte im kommenden Jahr zu verdoppeln, was aber bedeutet, man ist darauf angewiesen, die besetzten Gebiete der Ukraine landwirtschaftlich auszubeuten.

Zur Verdeutlichung der Kriegskosten: Die Kosten für die großen Raketenangriffe auf die Ukraine am 10. Oktober oder am 5. Dezember werden auf 400-700 Millionen Dollar geschätzt. Russland hat laut forensischer Untersuchungen der Ukraine noch keine Atomraketen genutzt. Spuren von Radioaktivität ließen sich nicht nachweisen. Allerdings werden immer öfter Raketen neuesten Datums genutzt, was anhand der eingravierten Daten erkennbar ist.

3.1. Schleichende Demontage Putins?

Putins Situation gleicht der eines Mafia-Bosses. In dem Moment, in dem ein solcher seine Position aufgibt, verliert er auch seine Sicherheit.
Mark Galeotti, Historiker, 13. Oktober 2022

Der Krieg gegen die Ukraine zeigt eine ganze Reihe von Fehleinschätzungen auf, die Putin zum Verhängnis werden könnten.

Putin hatte mit seinem Volk eine Art Gesellschaftsvertrag geschlossen, der nicht mehr funktioniert. Starker Führer, starkes Volk. Akzeptanz der Korruption der Herrschenden gegen die Freiheit im Privaten. So lautete auch der unausgesprochene Vertrag in der UdSSR.

Wir haben immer noch die Ära der ursprünglichen Kapitalakkumulation, und in solchen Situationen gibt es keinen anderen Weg. Wir haben sie wie die amerikanischen Raubritter des späten 19. Jahrhunderts. Nun, es ist klar, dass eine unmoralische Person andere der Unmoral verdächtigt. Daher vertrauen sie sich alle nicht sehr. Sie argumentieren etwa so: Ich mag unzufrieden sein, mein Nachbar mag auch unzufrieden sein, aber ich weiß sicher, dass er mich ausliefern wird, wenn er es für rentabel hält.
Abbas Gallyanov, 12. Juli 2022

Für dem Austausch des ukrainischen Oligarchen Medvedchuk gegen ukrainische Azovstal-Soldaten erhielt Putin besonders viel Kritik von russischen Nationalisten. Putin ist Patenonkel von Medvedchuks Tochter. Zudem wirft man Medvedchuk vor, 1 Mrd. Euro veruntreut zu haben, die er aus Russland vor dem Krieg für die Vorbereitung der Spezialoperation erhalten hatte. Medvedchuk bevorzugte von diesem Geld den Ankauf von Gemälden und Immobilien.

Auch ein anderes Kalkül ging nur nu einem kleinen Teil auf. Putin glaubte, dass in Europa durch den Entzug von Gas Angst erzeugt wird, was dazu führen sollte, europäische Politiker üben Druck auf die Ukraine aus und zwingen sie zur Versöhnung.

Erfolgreicher war Russland bei der Plünderung der besetzten Gebiete in der Ukraine. Im Jahr 2022 requirierte Russland 5,8 Mio. Tonnen Weizen (Wert 950 Mio. €). Schon zu Beginn des Krieges beschloss der Stadtrat von Krasnodar, Weizen aus dem Gebiet Kherson zu beschlagnahmen. Ähnliche Berichte gab es aus dem besetzten Teil des Oblast Zaporizhya. Die Bereicherung des Staates oder auch der eigenen Soldaten in den besetzten Gebieten wird in Russland nicht kritisiert. Ebensowenig die dortigen Kriegsverbrechen. Die Diskrepanz zwischen imperialen Machtansprüchen und der militärischen Realität gefährden Putins Machtbasis in Russland. Sichtbares Zeichen dafür sind unter anderem die Gründung eines TV-Kanal und Gründung eigene Partei von Prigozhin.

In zwei Artikeln "Brudervolk" als Kanonenfutter? und Das Imperium schlägt zurück geht Janka Belarus in der taz auf die Frage ein, ob Belarus sich am Krieg gegen die Ukraine aktiv beteiligen wird. Lukashenkas Regime kommt der Vorstellung Putins eines Staatsaufbaus sehr nahe. Scheinwahlen, in denen das Ergebnis vorher feststeht, die Bekämpfung der Opposition im Lande, ein Einsatz von Flüchtlingen als Waffe. Mit den großen Demonstrationen nach der Präsidentschaftswahl geriet Lukashenka in immer größere Abhängigkeit von Moskau.

Belarus ist längst Kriegsteilnehmer, denn vom belarusischen Staatsgebiet werden Raketen auf die Ukraine geschossen, im Februar und März war Belarus Aufmarschgebiet für die russische Armee. Ein aktives Eingreifen der schlecht ausgebildeten und mangelhaft ausgerüsteten belarusischen Armee ist dennoch kaum zu erwarten. Nur 3% der Belarusen würden eine militärische Unterstützung Russlands begrüßen. Trifft die verbale Unterstützung der belarusischen Propaganda auf das ukrainische Militär, droht ein Überlaufen vieler belarusischer Soldaten und ein Kollaps der eigenen Armee, was gravierende Folgen für Lukashenka im eigenen Land haben dürfte.

3.2. Propaganda - Die "Desatanisierung" der Ukraine wird immer dringlicher

Sie suchen weiterhin nach den imaginären Nazis, vor denen sie angeblich unsere Leute schützen wollten und sie können noch immer keine Ukrainer finden, die sie mit Blumen empfangen.
Volodymyr Zelenskyj, März 2022

Ein Blick in russische Medien lohnt sich, lässt einen allerdings je nach Gemütslage erschauern oder es übertrifft jedes Satireprogramm.

Ja, wir wissen, dass sehr viele Russen Opfer einer sehr effektiven Gehirnwäsche geworden sind. Es ist möglich, dass die sakramentale Zahl von "84% Unterstützung" übertrieben ist, aber die Tatsache bleibt bestehen. Eine beträchtliche Anzahl von Russen erlag Putins Propaganda und wurde, wie sie heute sagen, effektiv zu Zombies. Wie schnell dies erreicht wurde, die Tatsache, dass praktisch vor unseren Augen das Weltbild von Millionen und Abermillionen von Menschen radikal verändert wurde, kann schockieren.

Ähnliches geschah jedoch beispielsweise in Deutschland in den 30er und 40er Jahren des letzten Jahrhunderts. Mitten in Europa wurde eine zivilisierte Nation indoktriniert und zombifiziert. Außerdem ist sie nicht allein. Diese durch Hasspropaganda zombifizierten Nationen verfolgten eine aggressive Politik gegenüber ihren Nachbarn. Etwas Ähnliches passiert leider jetzt in Russland.
Andrej Illarionov, 19. Dezember 2014 vor dem EU-Parlament

Andrej Illarionov war von 2000 bis 2005 enger Wirtschaftsberater von Putin und vertrat Russland auf dem G7-Gipfel. Der Auslöser waren die Ereignisse in Beslan September 2004. Dezember 2014 hielt Illaronov eine 35minütige Rede vor dem EU-Parlament, die vieles von dem vorweggenommen hat, was sich 2022 ereignete. Er warnte damals, Sanktionen hätten keinen Effekt, weil sich Putin nur militärisch beeindrucken ließe. Illarionov konstatierte, (die EU und) die NATO hätten keine fertigen Antworten auf diese Herausforderungen. Diese Feststellung war auch noch Ende 2021 gültig. Illarionov außerte kurz vor dem 24. Februar 2022 in der Sendung von Savik Shuster, er sehe trotz der Soldaten an der russisch-ukrainischen Grenze keinen nahenden Krieg, da die Anzahl der dort stationierten Soldaten nicht ausreiche, die Ukraine militärisch besiegen zu können. In meinem Artikel Siebzehn Fragen vor dem Frühling vom 16. Februar kam ich zu einem ähnlichen Resultat, ich wollte damals einen Krieg nicht ausschließen und nannte den 22. Februar als möglichen Angriffstermin.

Die Misserfolge des russischen Militärs spiegeln sich in der Propaganda wider, die immer lauter und schriller wird. Am 7. Dezember warnte Putin vor polnischen Nationalisten und deren Gelüste, sich den Westen der Ukraine einzuverleiben und bot die großzügige Hilfe Russlands an, die Souveränität der Ukraine während des russischen Krieges gegen die Ukraine zu sichern:

Russland könnte der einzige wirkliche Garant der territorialen Integrität und Souveränität der Ukraine innerhalb ihrer derzeitigen Grenzen sein.
Vladimir Putin, 7. Dezember 2022

In diesem Satz erkennt man deutlich Putins Verständnis von der Ukraine. Die Grenzen der Ukraine werden vom Kreml definiert. Es wird ein nicht existentes Bedrohungspotential für die Ukraine aufgebaut. Vom Präsidenten eines Staates, der seit über 9 Monaten Krieg gegen das Land führt, welchem er sich als Schutzmacht anbietet.

Manche Meldungen in russischen Medien erinnern Deutsche an die eigene Geschichte. Es fällt als Deutscher schwer, nicht an das Mutterkreuz zu denken - welches kinderreichen Müttern in der Nazizeit verliehen wurde - wenn man Meldungen wie diese liest:

Wladimir Putin verlieh sieben Müttern für ihre großen Verdienste bei der Stärkung der Institution der Familie, der Betonung der Bedeutung der Mutterschaft und der Kindererziehung den Titel „Mutterheldin“
TASS,
26. November 2022

Solche Auszeichnungen gab es auch schon in der UdSSR-Zeit. Damals wie heute ist sie von chronischer Erfolglosigkeit gekrönt. "Der Staat tut alles, um Familien zu unterstützen", wird Putin zitiert. Medienwirksam wurden Bilder verbreitet, wie sich Putin mit Müttern und Ehefrauen von Soldaten trifft. Unter anderem dabei: Olesya Shigina, eine Regisseurin von patriotischen und orthodoxen Filmen.

Russische Familien sollten drei bis vier Kinder haben, um die Bevölkerung Russlands zu erhöhen, berichtete das Gesundheitsministerium.
Gazeta.ru am 7. Dezember

Auch diese Meldung hat einen Bezug zur UdSSR-Zeit. Breshnev äußerte gegenüber westlichen Gesprächspartnern seine Besorgnis einerseits über das bevölkerungsreiche China, andererseits auch über die unterschiedliche Bevölkerungsentwicklung innerhalb der UdSSR. Damals befürchtete man eine muslimische Mehrheit. Die heutige Propaganda versucht dagegen, den Krieg gegen die Ukraine als heiligen Krieg zu verkaufen. Man spricht von "Entsatanisierung" und nicht nur von Kadyrov hört man den Begriff Dschihad.

Ich glaube, dass es mit der Fortsetzung der speziellen Militäroperation immer dringender wird, die Ukraine zu entsatanisieren, oder, wie es der Chef der tschetschenischen Republik, Ramsan Kadyrov, treffend formulierte, ihre "vollständige Entsatanisierung".
Alexej Pavlov, stellvertretende Sekretär des russ. Sicherheitsrates arf.ru, 25.10.2022

Die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS veröffentlichte am 25. Oktober einen Artikel, in dem die religiöse Freiheit in der Ukraine als "Satanismus" interpretiert und der russische Krieg gegen die Ukraine als eine Art Kreuzzug gedeutet wird. Satanische Kulte sollen sowohl für den Maidan, als auch für die Gegenwehr der ukrainischen Armee verantwortlich sein.

Neu sind Artikel dieser Art nicht. Am 3. Juni titelte RIA Novosti "Satanismus und Okkultismus sind zur Ideologie der ukrainischen nationalen Bataillone geworden". Der abgebildete Kerzenständer kann in Russland im Internet käuflich erworben werden und der russische Ethnologe und Anthropologe Viktor Shnirelman hat mehrere Bücher über russischen Neonazismus mit Neo-Heidentum (Delfi, 30. Juni) veröffentlicht. Pagan-Metal (vorchristlicher Metal) ist in Russland und in der Ukraine gleichermaßen populär. Ebenso gibt es eine Pagan Folk-Szene, in denen Utensilien wie auf dem Photo manchmal zu finden sind. Jedoch verstehen sich beide Szenen nur selten satanistisch. Ebenso sind viele Pagan-Bands eben nicht nationalistisch bzw. faschistisch. RIA Novosti bleibt auch den Beweis schuldig, was ukrainischen Soldaten mit diesen Utensilien zu tun haben sollen. Die beiden Autoren Alexander Jegorzew (Sonderkorrespondent des öffentlich-rechtlichen orthodoxen Fernsehsenders Spas) und Andrey Kazakov (Kriegsberichterstatter der RIA Nowosti) präsentieren keinerlei Belege,

Ich bin Atheist, aber das ist definitiv ein Dschihad, ein heiliger Krieg.
Yevgeny Satanovsky

In der berüchtigten Politshow von Vladimir Solovyov redet der Moderator offen von Atomkrieg und meint, dass "alle sterben werden und wir in den Himmel kommen werden". Alleine von Solovyov ließen sich dutzende Kommentare präsentieren. Solovyov überdreht in den russischen Polittalkshows derart, man könnte den Eindruck bekommen, eine Satiresendung zu betrachten. In einem Gespräch unterhalten sich Satanovsky und Solovyov über den Dschihad und den Heiligen Krieg:

Solovyov: Lasst uns in Europa einmarschieren.
Satanovsky: [Wir müssen die ganze Ukraine einnehmen] bis zur Linie von … Mukachevo [ungarische Grenze] nach Lviv. Sonst bleibt ein Rest übrig.
Solovyov: Warum müssen wir hier aufhören? Ich glaube, wir geraten in einen gigantischen europäischen Krieg.

Die russische Zeitung lenta.ru titelte am 3. Dezember: "Der Spetsnaz-Geheimdienstoffizier in der LNR (Volksrepublik Luhansk) erklärte die schnelle Wiederauffüllung der Verluste der Streitkräfte der Ukraine durch das Klonen des Militärs". Der zitierte Offizier hatte sich etwas anders ausgedrückt, was lenta.ru aber nicht davon abhielt, einen spektakulären Aufmacher zu schreiben.

Nicht nur im russischen TV sind absurde Kommentare zu hören. Im belarusischen Staats-TV behauptete Yevgeny Pustovoy Ukrainer essen Russen.

Manchmal greift die russische Propaganda zu Fälschungen. In den Nachrichten von NTV wird ein frei erfundenes Titanic-Titelbild (Minute 1:06) gezeigt. Das Original enthielt ein ganz anderes Bild mit dem neuen König Charles. Kreativ geht auch das russische Außenministerium mit der Wahrheit um. Am 24. Oktober veröffentlichten sie ein Foto und behaupteten, es zeige die Vorbereitung einer "schmutzigen Bombe" in der Ukraine. Die Photos wurden im Jahr 2010 aufgenommen und von der slowenischen Agentur für radioaktive Abfälle (ARAO) in Informationsmaterialien veröffentlicht. Zwar berichteten viele Medien wie die Rheinische Post über diesen verunglückten russischen Fake, dennoch findet sich immer wieder die Behauptung, die Ukraine baue an einer biologischen oder auch an einer "schmutzigen" Waffe. Es handelt sich dabei um eine ständige Wiederholung einer Behauptung über den militärischen Gegner wie die Behauptung einer faschistischen oder zumindest nationalistischen Ukraine, die auch viele deutsche Journalisten bei der eifrigen Suche nach der Mitte immer wieder gerne aufgreifen.

4. Luftalarm in der Ukraine

Um einen Eindruck zu bekommen, wie sehr der tägliche Luftalarm die Zivilbevölkerung belastet, folgt eine Aufstellung, wie oft und wie lange zwischen dem 15. März und dem 4. Dezember 2022 (14 Uhr) in den Regionen der Ukraine Luftalarm herrschte, folgt eine Aufstellung (Quelle Provitryana Tryvoha):

Cherkasy 585 (22t 3h 27m) 6,56%
Chernivtsi 193 (9t 5h 16m) 2,73%
Chernhiv 387 (23t 17h 42m) 7,03%
Dnipro 1043 (33t 0h 32m) 9,78%
Ivano-Frankivsk 218 (9t 18h 26m) 2,89%
Kharkiv 1352 (49t 21h 18m) 14,78%
Khmelnytskyi 243 (10t 13h 33m) 3,13%
Kryvyi Rih 695 (24t 8h 13m) 7,21%
Kyiv 446 (19t 17h 45m) 5,85%
Lviv 218 (9t 13h 52m) 2,84%
Mykolaiv 812 (37t 7h 29m) 11,05%
Odesa 520 (19t 3h 42m) 5,67%
Poltava 705 (26t 2h 52m) 7,75%
Rivne 261 (10t 14h 21m) 3,14%
Sumy 481 (21t 15h 20m) 6,41%
Ternopil 247 (10t 16h 3m) 3,16%
Vinnyzya 394 (15t 14h 37m) 4,62%
Volyn 265 (10t 17h 38m) 3,18%
Zakarpatia 187 (8t 16h 36m) 2,57%
Zhytomyr 419 (18t 14h 33m) 5,51%

Putin rechtfertigte die Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur mit dem Angriff auf die Krym-Brücke, die als Nachschublinie sehr wohl ein militärisches Ziel ist. Bis Anfang Oktober wurden über die Eisenbahnbrücke die Fronten im Raum Kherson und Zaporizhya versorgt. Die Eisenbahnbrücke ist bis heute nicht renoviert. Erst ab Sommer 2023 soll sie wieder für den Güterverkehr zur Verfügung stehen.

In Kherson haben wir keinen Strom, kein Wasser, keine Zentralheizung, keine Mobilfunk- und Internetverbindungen. Aber es gibt keine Russen! Wir sind frei!
Ukrainer in Kherson im November 2022

Es ist nicht zu erwarten, die Angriffe auf die Stromversorgung werden den Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung zu brechen. Zwar scheint das Kalkül zu sein, die ukrainische Bevölkerung könnte mit einem Aufstand gegen Zelenskyj den Krieg beenden, aber es führt zum Gegenteil. Der Wille, das Land zu verteidigen, ist auch in einer kalten Wohnung ohne Strom weiterhin groß. Viele Menschen haben Vorräte angelegt und nutzen die stromlose Zeit zum Schlafen. Sie bereiten sich auf einen langen Winter vor und nehmen wie UkrEnergo das Unabwendbare mit Humor: Das Geheimnis der Notstromausfälle ist gelüftet.

Die Auswirkungen sind je nach Region, Stadtbezirk und sogar Wohnung unterschiedlich. Wer in der Nähe eines Krankenhauses, einer Brotfabrik oder einem ähnlich wichtigen Objekt wohnt, hat wenig bis keine Einschränkung mit der Stromversorgung, da diese Häuser nicht einzeln abgeschaltet werden können. In fast allen Städten gibt es geplante und ungeplante Abschaltungen. Frontnahe Städte wie Kherson oder Nikopol sind besonders stark betroffen, da die russische Armee mit Artillerie gezielt auf die Stromversorgung schießt. In Poltava kündigt sich eine leichte Entspannung der Lage an. Dort nutzten die Ingenieure die längeren Abschaltzeiten für umfangreichere Reparaturen.

Auswirkungen haben die russischen Angriffe auf die Energieversorgung nicht nur auf die Ukraine. Auch die Republik Moldau und Transnistrien sind stark von der Stromversorgung im Westen der Ukraine nahe der polnischen Grenze abhängig.

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Artikel über den Krieg Russlands gegen die Ukraine

Interview mit einem Soldaten vor Kharkiv (24. Juli 2022)
Interview mit einem Soldaten an der Front im Donbas (10. Juli 2022)
Der sakrale Kult in Russland um den 9. Mai (8. Mai 2022)
Ein Propagandist als Verhandlungsführer für Friedensgespräche (23. März 2022)
Schicksale der Menschen in einem Angriffskrieg (27. Februar 2022)
Give us the tools and we will finish the job (27. Februar 2022)
Zerplatzende Illusionen über Putins Russland in Deutschland (25. Februar 2022)
Das Gesetz des Stärkeren ersetzt das Recht auf Selbstbestimmung (24. Februar 2022)
Ein Angriffskrieg mit nationalistischen Motiven (24. Februar 2022)
Mercenaries (Ready For War) (21. Februar 2022)
Siebzehn Fragen vor dem Frühling (16. Februar 2022)

Bisherige Artikel über Russland und der Ukraine

Historische Einheit von Russen und Ukrainern? (6. September 2021)
Wollen die Russen Krieg? (12. April 2021)
Krieg der Spezialeinheit "Sie sind nicht da" (13. April 2020)
Folter in der Volksrepublik Donezk & Luhansk (16. März 2020)
Gefangenenaustausch Ukraine und Russland (31. Dezember 2019)

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