Leben und Tod der Rosa Reichel: Über ein Mädchen, das 2021 im belgischen Hochwasser starb

Katastrophe Zeitgleich zur Ahrtalflut wurde die belgische Provinz Wallonien überschwemmt. Die 15-jährige Rosa Reichel wurde von einer Welle mitgerissen und flussabwärts gespült. Nun kämpft ein Freund dafür, sie als Opfer des Klimawandels anzuerkennen
Insgesamt starben 39 Menschen bei der Hochwasserkatastrophe in Belgien 2021 – Rosa Reichel war eine von ihnen
Insgesamt starben 39 Menschen bei der Hochwasserkatastrophe in Belgien 2021 – Rosa Reichel war eine von ihnen

Foto: Nicolas Maeterlinck

Es war kein Fluss. Es war kaum ein Bach. Der Ruisseau des Quartes in Belgien ist ein hässlicher und unscheinbarer Nebenfluss der Ourthe. Kaum zwei Meter breit, an manchen Stellen sumpfig, an anderen nur fünf Zentimeter tief. Die Eltern, die ihre Kinder am 10. Juli 2021 in das Sommercamp der United World Colleges brachten, hüpften über dieses Rinnsal, während sie die Taschen zu den Schlafsälen schleppten. Sie ahnten nicht, wie viel Angst und Schrecken dieses Bächlein hier noch verbreiten würde.

Der vierzehnjährige Benjamin Van Bunderen Robberechts war schon auf der Hinfahrt nervös. Bei seiner Ankunft im Camp würde er einen Covid-Test machen müssen. Er befürchtete, dass dieser positiv ausfallen würde. Belgien hatte gerade begonnen, die Beschränkungen zu lockern, Benjamin wollte unbedingt wieder andere Teenager treffen. Zum Glück war sein Test negativ. Schon bald konnte Benjamin also seine Sachen im Wohnheim abgeben und die anderen Mitbewohner kennenlernen. Eine von ihnen hörte auf den schönen Namen: Rosa.

Rosa Reichel war 15 Jahre, ihre Familie lebte in Brüssel. Sie hatte rot gefärbte Haare, schwarzen Eyeliner, um den Hals trug sie eine dicke Silberkette. Sie klopfte Benjamin auf die Schulter und erzählte ihm einen schmutzigen Witz. Schon waren die zwei Freunde.

Das Mädchen, das Benjamin an diesem Tag traf, lachte viel: laut und fröhlich. Wenn man Rosas Freunde in einem Raum versammeln und sie bitten würde, eine Sache an ihr zu beschreiben, wäre es ohne Frage ihr Lachen. Sie war lustig, aber gleichzeitig auch fürsorglich. Rosa war immer die Person, die bemerkte, wenn es anderen schlecht ging. Ihre Freunde hatten das Gefühl, dass sie jemand war, auf den man sich verlassen konnte, jemand, der jeden Raum, in dem sie war, aufhellte. Sie setzte sich für ihre Freunde ein und für Dinge, an die sie glaubte. Anfangs war sie vielleicht ein wenig schüchtern, aber wenn sie sich öffnete, teilte sie ihren Humor, ihre Werte und sich selbst. Benjamin war überwältigt von ihr. „Sie war der tollste Mensch, den ich je getroffen habe“, sagt er.

Rosas letzte Worte, bevor sie starb

Am Mittwoch, dem 14. Juli, regnete es in Strömen. Während der morgendlichen Workshops tauschten Benjamin und Rosa Blicke aus, als wollten sie sagen: Das ist ja blöd. Die Teenager spielten Tischtennis und schimpften über das Essen. Am Nachmittag wurden sie unruhig. Einige von ihnen, darunter auch Rosa, beschlossen, im Regen joggen zu gehen.

„Wie war der Lauf?“, fragte Benjamin, als sie zurückkam. „Nass“, antwortete sie.

Es regnete, aber es fühlte sich nicht gefährlich an. Benjamin und Rosa gingen vor die Tür, stellten sich auf eine Brücke über den Bach und beobachteten das Wasser. Der Boden war schlammig. Rosa rutschte aus. Benjamin fing sie auf, bevor sie stürzte. Das Letzte, was sie zu ihm sagte, war: „Benjamin, was würde ich ohne dich tun?“ Sekunden später überschwemmte ein fürchterlicher Wasserschwall die Felder. Rosa wurde mitgerissen. Benjamin sprang ihr hinterher. Er fing sie auf und hielt sich mit seinem freien Arm an Ästen fest. Er erinnert sich daran, wie er seine Sandalen wegschwimmen sah, eine nach der anderen. Er stürzte sich auf einen Zaunpfahl, während er Rosa mit dem anderen Arm festhielt. „Aber dann kam eine größere Welle und sie rutschte mir aus den Händen.“

In Wallonien, der überwiegend französischsprachigen Region im Süden Belgiens, regnete es den ganzen 13. Juli hindurch heftig. In den am stärksten betroffenen Gebieten fielen in nur 72 Stunden zwischen 200 und 300 Millimeter. Die Mitglieder des Europäischen Hochwasserwarnsystems im Vereinigten Königreich hatten am 12. Juli Warnungen an die belgischen Behörden gesandt, die jedoch offenbar nicht ausreichend beachtet wurden. Die Katastrophe ereignete sich dann am Morgen des 14. Juli.

In der Stadt Lüttich – einst Zentrum der industriellen Revolution, ein Ort, an dem Kohle abgebaut, Eisen geschmiedet und Kupfer veredelt wurde, um es über die Maas in die ganze Welt zu exportieren – nahmen Mitglieder des Stadtrats gerade an einer Feier zu Ehren des französischen Widerstands teil. Immer wieder klingelten ihre Telefone während der Veranstaltung. Nicht ohne Grund: Sieben Meilen entfernt, in Trooz, einer bescheidenen, deindustrialisierten Stadt mit 8.500 Einwohnern, war die Weser am Mittag über die Ufer getreten. Sie stieg insgesamt auf sechs Meter an. Der Bürgermeister, Fabien Beltran, war die ganze Nacht wach, um mit einer riesigen Schlammlawine am Stadtrand fertig zu werden.

Die Kommunikationsserver der Stadt waren in einem Keller des Rathauses untergebracht, der innerhalb einer Stunde überflutet wurde. Um 13.30 Uhr waren alle Straßen unpassierbar. Wenn Beltrans Telefon ein Signal hatte (was selten der Fall war), summte es ununterbrochen. Am anderen Ende der Leitung waren dann die panischen Stimmen der Anwohner zu hören. Sie standen auf ihren Küchentischen, das Wasser stand ihnen bis zur Hüfte. Beltran rief die Armee an, die ihm mitteilte, dass Hilfe auf dem Weg sei. Acht Stunden später trafen einige Soldaten mit kleinen Beibooten ein. Beltran hätte 2.200 Menschen in Sicherheit bringen müssen – eine unmögliche Aufgabe. Eltern standen mit ihren Kindern auf den Dächern; sie wussten nicht, ob sie ins Wasser springen sollten. Beltran hatte niemanden, den er zu ihnen schicken konnte. Es war der schlimmste Moment seines Lebens.

So sah es in der Gemeinde Trooz am 20. Juli 2021 aus

Foto: Yves Herman/ Picture Alliance

Stromaufwärts, in Eupen, war der Weser-Damm stark belastet. Normalerweise fasst er 25 Millionen Kubikmeter Wasser, aber nach den starken Regenfällen staute er zusätzlich 13,4 Millionen Kubikmeter auf. Bei einem Bruch würden 38,4 Millionen Kubikmeter Wasser durch die Städte Limburg, Verviers, Pepinster, Trooz und Chaudfontaine fließen. Also wurde am Abend des 14. Juli die Entscheidung getroffen, das Wasser kontrolliert abzulassen. Zunächst floss es mit einer Geschwindigkeit von fünf Kubikmetern pro Sekunde in die Weser, nach und nach stieg dieser Wert auf 150 Kubikmeter pro Sekunde an. Am 15. Juli, kurz nach Mitternacht, erbebten die Seismometer unter dem Tosen einer Sturzflut.

Sie donnerte die Weser entlang, dann in die Ourthe und die Maas. Sie pulverisierte Brücken, Straßen, Lagerhäuser, Lastkraftwagen, Fabriken, Autos und Geschäfte. Gebäude wurden in zwei Hälften gerissen wie Brotlaibe. Brücken wurden wie Dosen in einer Recycling-Tonne zerknittert.

Der nächste Tag, der 15. Juli, begann kalt und nass. In Lüttich, Dolhain und Eupen evakuieren die Bürgermeister die Städte, da sie einen Dammbruch in der Nähe von Lüttich befürchten. Doch in Trooz und Pepinster war es dafür zu spät: Die Menschen waren bereits eingeschlossen. Die Mitglieder eines Jetski-Clubs boten Beltran ihre Dienste an. Sollten sie ertrinken, könnte er für ihren Tod verantwortlich sein. Aber es waren Kinder auf den Dächern, also sagte er zu. Unter großem persönlichen Risiko retteten die Jetskifahrer die Menschen. Aber für manche kam jede Hilfe zu spät.

In Trooz starb ein 20-jähriger Mann beim Versuch, die Straße zu überqueren. Zwei ältere Menschen erlitten einen Herzinfarkt. In Lüttich sind zwei Menschen in ihren Häusern ertrunken. Insgesamt starben in Belgien 39 Menschen, bevor das Wasser zurückging. Am Morgen des 15. Juli blinkte auf den Mobiltelefonen der Menschen in den betroffenen Gebieten eine Warnung auf. „Seien Sie wachsam“, hieß es dort. „Überschwemmung an den Ufern der Maas. Evakuieren Sie, wenn möglich, oder suchen Sie Schutz in den oberen Stockwerken.“

Rosa starb an den Folgen des Klimawandels

Es dauerte drei Tage, bis die Retter Rosas Leiche vier Meilen flussabwärts fanden. Benjamin hatte lange versucht, hoffnungsvoll zu sein, zu denken, dass sie vielleicht auf einem Baum sitzt. Aber tief in seinem Herzen wusste er, dass sie tot war. „Das Wasser war ein Ungeheuer“, sagt er.

Monatelang verließ er kaum sein Zimmer. Er versuchte, zur Schule zu gehen. Aber als ihn am ersten Tag jemand fragte, wie sein Sommer gewesen war, machte ihn das fertig. Er vermied den Anblick von Gewässern. Er hatte das Gefühl, dass Rosas Tod seine Schuld war. War er nicht derjenige gewesen, der vorgeschlagen hatte, rauszugehen? „Ich habe sie nicht gerettet“, sagt der heute 17-jährige Benjamin mit leiser Stimme.

Er ging jede Erinnerung durch, die er an Rosa hatte, jede ihrer Interaktionen in den fünf Tagen, in denen er sie kannte. Wie sie sagte, dass er mit seiner Piloten-Sonnenbrille wie Tom Cruise in Top Gun aussah. Wie sie scherzten, sie seien wie Mann und Frau. Wie er ihr beibrachte, wie man Rock Around the Clock auf seiner Bassgitarre spielt. „Jedes Mal, wenn ich an Rosa dachte, wurde ich im Geiste in den Fluss gezogen“, sagt er.

Es dauerte nicht lange, bis Benjamin die Verbindung zwischen Rosas Tod und der Klimakatastrophe herstellte. „Es hat sich ziemlich schnell ergeben.“ Am 10. Oktober 2021 schloss sich Benjamin den Demonstranten an, die vor der Cop26 durch Brüssel zogen, um Klimagerechtigkeit zu fordern. Er war mit einer Gruppe von Rosas Freunden unterwegs, die alle rot gekleidet waren. „Politiker sterben an Altersschwäche“, stand auf ihrem Transparent. „Rosa starb an den Folgen des Klimawandels“.

Zum Glück gab es Menschen, die nach der Katastrophe zur Hilfe eilten. Philippe Duquesnoy und seine Frau zum Beispiel.

Phillippe Duquesnoy und Inge Van Tendeloo (Mitte) mit einer weiteren Freiwilligen des #TeamEclairs

Foto: Alain Coppens

Ursprünglich wollte Duquesnoy mit seiner Lebensgefährtin, der 45-jährigen Inge Van Tendeloo, im Juli 2021 in den Urlaub fahren. Aber wegen der Pandemie konnten sie nicht reisen. Als der 51-jährige Fabrikleiter die Überschwemmungen in den Nachrichten sah, beschloss er, seine Dienste als Freiwilliger anzubieten. Er wohnt in Kessel, im flämischen Teil Belgiens, anderthalb Autostunden entfernt.

Am ersten Tag kochte er für die Menschen in einer Armeeküche. Dann begann er, die Freiwilligen zu organisieren und sie in die überfluteten Häuser zu schicken. Die Anwohner wiesen auf ihn hin – „der Typ mit der runden Brille“, sagten sie, „der wird euch helfen“ – und die Freiwilligen kamen zu ihm und warteten auf Befehle. „So fing es an“, sagt Duquesnoy.

Es ist Januar 2024 und wir sind in Trooz. Mit Duquesnoy und Van Tendeloo durch die Stadt zu gehen, ähnelt einem Spaziergang mit einem Prominenten: Sie können keine fünf Schritte gehen, ohne aufgehalten zu werden. Überall wird ihnen Kuchen, hausgemachtes Kirschwasser und Kaffee aufgedrängt. In einer Bäckerei besteht ein Mann darauf, sie – und mich, weil ich dabei bin – zum Mittagessen einzuladen. Sie haben ein spezielles Schild, mit dem sie parken können, wo sie wollen. Duquesnoy scherzt, wenn seine Partnerin ihn jemals rauswerfen würde, könnte er jahrelang umsonst in Trooz wohnen.

Diese Großzügigkeit ist der Dank für etwas, das im Nachhinein wie eine unergründliche Freundlichkeit erscheint. Zwei Jahre lang verbrachten Duquesnoy und seine Lebensgefährtin Van Tendeloo jedes Wochenende (oft beide Tage) mit dem Wiederaufbau von Trooz, einer Stadt, die sie vor den Überschwemmungen nie besucht und in der sie keine Familie hatten. Zusammen mit den anderen Freiwilligen, einem 120-köpfigen Kollektiv namens #TeamEclairs, putzten, strichen, deckten und reparierten sie Dächer. Der Name ist eine Anspielung auf ihr Lieblingsgebäck, aber auch auf die Geschwindigkeit, mit der sie arbeiteten – éclair bedeutet auf Französisch Blitz. Auf jeden Fall sind die zwei in Trooz weitaus beliebter als Fabien Beltran.

Nach dem Hochwasser sind 1.000 Menschen weggezogen aus Trooz

Der Bürgermeister ist ein sanftmütiger Mann mit einem Sinn für schwarzen Humor. „Viele Leute sind sehr hart zu mir“, seufzt Beltran. Wir befinden uns in seinem Büro, einem mobilen Gebäude auf dem Parkplatz eines alten Automuseums. In den vergangenen drei Jahren ist das Rathaus noch nicht wieder aufgebaut worden. „Sie denken, dass ich selbst dafür verantwortlich bin, was passiert ist. Es ist sehr schwer für mich, jeden Tag auf Facebook zu lesen: Die Stadt tut nichts! Der Bürgermeister ist nicht da.“ Dies wird Beltrans letzte Amtszeit sein. „Ich trete zurück“, sagt er und lacht. „Oh ja.“

Ich komme in Trooz an, nachdem es einige Tage lang stark geregnet hat. Die Menschen sind besorgt und überprüfen ständig ihre Hochwasserwarn-App. Einige gehen nicht am Fluss spazieren; das Geräusch des Regens löst schmerzhafte Erinnerungen aus. Nach den Überschwemmungen sind etwa 1.000 Menschen weggezogen, 600 sind jedoch zurückgekehrt. Diejenigen, die geblieben sind, murmeln düster über den Staudamm und darüber, dass nicht der Regen, sondern dessen Missmanagement für die katastrophalen Abflüsse verantwortlich war. Trooz ist eine post-industrielle Stadt. Die Menschen hier sind nicht wohlhabend. Etwa 40 Prozent der Bevölkerung waren nicht versichert. Sie erhielten etwas Hilfe von der Regierung, waren aber größtenteils auf die Freiwilligen angewiesen.

Auch Jennifer Klar bekam Hilfe vom#TeamEclairs. Die 39-jährige, alleinerziehende Mutter arbeitet im öffentlichen Dienst. Ihr Haus wurde erst überflutet und dann geplündert. Sie musste sich die Versicherungssumme mit ihrem Ex-Mann teilen, sodass sie nur die Hälfte dessen erhielt, was sie für den Wiederaufbau benötigte. Sie kaufte ein billigeres Haus in der Nähe, das ebenfalls durch die Überschwemmung beschädigt worden war. Aber sie sagt, ein Bauunternehmer habe ihr Geld genommen und sei verschwunden, bevor die Arbeiten abgeschlossen waren. Das Dach lag noch offen, wodurch das Haus unbewohnbar war.

Duquesnoy erfuhr Ende 2023 über seine Kontakte, dass Jennifer Klar in Schwierigkeiten steckte. Obwohl sich das #TeamEclairs offiziell aufgelöst hatte, erklärte er sich bereit, ihr zu helfen.

Bis die Renovierungsarbeiten abgeschlossen sind, schlafen Klar und ihre Töchter, 15, 10 und sechs Jahre, in der Wohnung ihrer Mutter. Klar schläft auf dem Sofa und die Mädchen teilen sich ein Doppelbett; ihre Mutter wohnt bei einer Freundin. „Die Mädchen fragen sich, ob sie jemals wieder ein normales Leben haben werden“, sagt Klar, eine zierliche blonde Frau mit manikürten Nägeln und winzigen Tattoos. „Denn es hat zweieinhalb Jahre gedauert und sie sehen kein Ende der Situation. Für die Älteste ist es am schwierigsten. Weil sie alles versteht.“

Wird heute noch auf Facebook beleidigt: der Bürgermeister von Trooz, Fabien Beltran

Blinzelnd erzählt Klar, dass sie ihren Töchtern versprochen hat, dass sie bis Weihnachten 2023 in das neue Haus einziehen würden, aber sie konnte es nicht einhalten. Sie haben nicht einmal einen Weihnachtsbaum aufgestellt – niemandem war nach Feiern zumute. Sie fängt an zu weinen „Manchmal fragen mich die Leute: Wie ist die Situation jetzt?“, sagt Duquesnoy leise. „Und die Situation ist, dass viele Menschen psychisch sehr niedergeschlagen sind.“ Einige seien selbstmordgefährdet gewesen, bevor #TeamEclairs auftauchte.

Im benachbarten Chaudfontaine zeigt uns Jennifer Koremans, eine 34-jährige Sekretärin, ihr frisch renoviertes Haus, das zwar hochwertig und modern ist, aber das antiseptische Gefühl eines Airbnb versprüht. Alles ist neu. An den Wänden gibt es keine Fotos oder Bilder – die sind alle von der Flut verschluckt worden. Die einzige Farbe stammt von einer Schale Mandarinen auf dem Küchentisch. Auch Koremans wurde Opfer eines betrügerischen Bauunternehmers und verlor 29.000 Euro. Das #TeamEclairs hat neun Monate damit verbracht, ihr Haus zu renovieren – kostenlos. „Sie kamen vom Himmel, um mir zu helfen, ohne jeden Grund“, sagt Koremans mit leuchtenden Augen. „So habe ich angefangen, wieder leben zu wollen.“

Ich frage Duquesnoy, ob er glaubt, dass er in den Himmel kommt. „Sie wissen nicht, was ich vorher gemacht habe“, brüllt er und schlägt lachend auf das Lenkrad. „Aber vielleicht wird Gott es sich ja überlegen.“

In dieser Stadt gibt es so viel Freundlichkeit, Freundschaft und Liebe. Die Freiwilligen haben sogar romantische Beziehungen zu Einheimischen aufgebaut: Es gibt ein #TeamEclairs-Baby, einen Jungen namens Fonske. Aber es gibt auch das Gefühl, dass so etwas wie die Flut von 2021 nie wieder passieren darf. Die Stadtverwaltung ist dabei, Land zu kaufen, um es als Überschwemmungsgebiet umzuwidmen. Ein inzwischen aufgegebenes Sozialwohnungsprojekt nahe der Weser soll abgerissen werden. Dafür stehen im städtischen Haushalt jedoch nur 40 Millionen Euro zur Verfügung, was bei Weitem nicht ausreicht. Und einige der Häuser, die abgerissen werden sollen, sind von ihren Eigentümern bereits mit großem Aufwand wieder aufgebaut worden.

Viele Menschen sind nicht darauf vorbereitet, dass das Hochwasser zurückkommen wird. Sie haben ihre Häuser genau so wiederaufgebaut, wie sie waren, ohne Sicherheitsmaßnahmen. Elektrik und Heizkessel befinden sich im Erdgeschoss. Die Schlafräume befinden sich im Erdgeschoss. Es gibt keine hochwassersicheren Wände, Türen oder Fenster.

Ein Temperaturanstieg von einem Grad bedeutet sieben Prozent mehr Niederschlag

Überall in Trooz und den umliegenden Städten sprechen die Menschen über den Damm. Wäre er nicht so plötzlich geöffnet worden, wäre dieses Unglück nicht passiert. Ja, es hätte eine Überschwemmung gegeben, aber nicht in diesem Ausmaß. Die Behörden, so glauben sie, werden denselben Fehler nicht noch einmal machen. Natürlich werde es auch in Zukunft Überschwemmungen geben – die Städte sind an 30 oder sogar 60 Zentimeter Wasser gewöhnt –, aber eine Wasserbombe, wie sie in der Nacht des 15. Juli im Wesertal explodierte, werde es nie wieder geben.

Beltran hält dies für eine magische Vorstellung, aber er hat kein Problem damit. „Wenn diese Vorstellung sie beruhigen kann, ist das gut für mich“, sagt er. „Es ist wie bei einer Religion. Wenn man in einer Religion glaubt, dass es jemanden gibt, der sich um einen kümmert, ist das kein Problem.“ Aber der wahre Grund für die Flut, sagt der angeschlagene Bürgermeister, „war kein menschliches Versagen. Es war der Klimawandel.“ Ich interviewe den angeschlagenen Bürgermeister an einem Samstagmorgen, weil er ohnehin an den meisten Samstagen arbeitet. Nach den Überschwemmungen traf er 2.500 Menschen in ihren Häusern, während seine Frau mit einem Hirnaneurysma im Krankenhaus lag. Trotzdem wurde er auf Facebook beleidigt.

Der Klimatologe Xavier Fettweis hat errechnet, dass die Überschwemmungen, die im Juli 2021 in Belgien stattfanden, vor 2014 unmöglich gewesen wären und erst durch die Klimakrise möglich wurden. Warme Luft speichert Wasser, was die Niederschläge erhöht; ein Temperaturanstieg von einem Grad Celsius bedeutet, dass sieben Prozent mehr Wasser in der Luft gespeichert wird. Die globale Erwärmung führt auch dazu, dass Tiefdruckgebiete länger an einem Ort verbleiben. Die Überschwemmungen von 2021 wurden durch ein Tiefdruckgebiet über Mitteleuropa verursacht, das zu anhaltenden Niederschlägen über großen Gebieten führte. Belgien war stark betroffen, ebenso wie Deutschland (lesen Sie hier eine Reportage über die Folgen der Ahrtalflut).

Die Topographie des Wesertals macht es besonders anfällig für Überschwemmungen. Drei große Flüsse – die Weser, die Ourthe und die Maas – sowie ihre Nebenflüsse fließen hier zusammen, während das Hohe Venn, die höchsten Berge Belgiens, die Wolken einfängt und die Niederschläge auf eine dicht besiedelte Region konzentriert.

Klimatologe: Das Westertal wird in den nächsten 25 Jahren mit Sicherheit wieder überschwemmt

Den Modellen von Fettweis zufolge wird es im Wesertal bis 2050 ein- oder zweimal zu Überschwemmungen gleichen Ausmaßes wie im Juli 2021 (oder sogar noch größer) kommen. Wie sagt man einer Gemeinschaft von Menschen, die alles verloren haben, deren Nachbarn gestorben sind, die gegen Versicherungsgesellschaften und räuberische Bauunternehmer gekämpft haben und erst jetzt, zögernd, beginnen, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, dass sich diese Überschwemmungen in den nächsten 25 Jahren nicht nur einmal, sondern zweimal wiederholen könnten?

Jacques Teller von der Universität Lüttich hat es versucht. Unmittelbar nach den Überschwemmungen führte er Interviews mit Überlebenden. Viele Menschen sagten ihm am Ende des Gesprächs: „Diesmal werde ich wieder aufbauen. Aber ein anderes Mal werde ich das nicht schaffen.“ Wie haben die Menschen vor Ort die Nachricht aufgenommen, dass es wieder passieren wird? „Sehr schlecht“, sagt Teller. „Sie waren fest davon überzeugt, dass es nicht mehr vorkommen kann.“

Wir sind in Pepinster, stehen am Flussufer und bewegen uns, um warm zu bleiben. Hier im Wesertal seien viele Fehler gemacht worden, sagt Teller: Häuser wurden direkt am Wasser gebaut, manchmal mit unterirdischen Garagen; die Brücken, die den Fluss überqueren, haben Pfeiler, die leicht wegknicken können; außerdem wurde das Land mit Kiefern bepflanzt, die das Wasser eher ableiten als aufnehmen.

Teller zeigt auf einige ältere Häuser, die im oder vor dem 19. Jahrhundert gebaut wurden und einen halben Meter über dem Boden stehen. „Die Menschen waren nicht dumm“, sagt er. Mit der raschen Industrialisierung des Tals im 19. Jahrhundert sei dieses Wissen jedoch verloren gegangen. In den 1950er-Jahren begannen die Menschen flussaufwärts zu bauen, wodurch mehr Wasser in die tiefer gelegenen Gebiete geleitet wurde. „Die Menschen fühlten sich durch den Damm geschützt“, sagt Teller. „Das hat ein falsches Vertrauen geschaffen.“

Die unangenehme Realität ist, dass das Wesertal in den nächsten 25 Jahren mit Sicherheit wieder überschwemmt werden wird, vielleicht sogar zweimal. Wenn das Wasser kommt – und es wird kommen – werden viele Menschen nicht darauf vorbereitet sein. „Die Menschen wollen vergessen“, sagt Teller. „Das ist ganz normal. Die Erinnerung wird bereits nach und nach ausgelöscht.“

Freitag, 16. Juli 2021: Pepinster steht unter Wasser

Foto: Bruno Fahy/ Getty Images

Als ich Benjamin treffe, ist er gerade von der Cop28 zurückgekehrt, wo er auf zehn Veranstaltungen gesprochen und einen hochrangigen Berater von António Guterres, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, getroffen hat. Er ist jetzt ein Vollzeit-Aktivist oder, wie er es lieber ausdrückt, ein „Klimadiplomat“. Seine Kampagne heißt „Klimagerechtigkeit für Rosa“. Es ist Benjamin bereits gelungen, die EU davon zu überzeugen, die weltweiten Opfer der Klimakrise mit einem jährlich am 15. Juli stattfindenden Gedenktag zu ehren. Aber er möchte, dass dies auf UN-Ebene geschieht.

Benjamin hat den müden Zynismus von jemandem, der doppelt so alt ist wie er. „Die Cop war schrecklich“, sagt er, während er in einem Brüsseler Bistro in ein Schokobrötchen beißt. Er kennt alle belgischen Politiker und ihre Tricks. „Mach immer das Foto am Ende des Gesprächs, sonst benutzen sie dich für den Schnappschuss und verschwinden“, sagt er. Er fürchtet sich vor Interviews über Rosa, aber er lehnt sie nie ab, weil er es für wichtig hält, ihre Geschichte zu erzählen. „Ich habe die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben“, sagt er. Benjamin hasst es, wenn Journalisten ihn fragen, ob ihre Beziehung romantisch war. „Ich weiß es nicht“, sagt er schlicht. „Ich möchte nicht zu viel darüber nachdenken, weil ich mich dann emotional schwer verletzen würde.“

Als ich Benjamin treffe, habe ich den Eindruck, dass am 14. Juli zwei Kinder in diesen Bach gefallen sind. Aber das eine, das überlebt hat, war kein Kind mehr.

„Klimagerechtigkeit für Rosa“

Wir lassen unser Gebäck stehen und gehen zu einer Erle, die im Brüsseler Stadtteil Ixelles gepflanzt wurde. Sie wurde „Rosas Baum“ getauft. Heute, am 7. Januar, wäre ihr 18. Geburtstag gewesen. Ihre beste Freundin aus Kindertagen und Rosas Cousin sind damit beschäftigt, den Baum für eine Gedenkveranstaltung am Abend vorzubereiten.

Um 18 Uhr sind wir etwa 50 Personen: Rosas Großfamilie, ihre Freunde aus der Schule und dem Camp sowie deren Familien und Freunde. Rosas Mutter umarmt jeden einzelnen und schenkt ihm oder ihr eine Rose. Sie stehen schweigend da, die Gesichter vor Schmerz angespannt. Dann treten sie einer nach dem anderen vor und legen Rosen an dem Baum ab. Rosas Vater klebt einen Aufkleber mit der Aufschrift „Climate Justice for Rosa“ an einen Laternenpfahl. Der Aufkleber ist auch im nächsten Monat noch da, als Benjamin mir ein Foto von dem Baum schickt. Es hat geschneit und jemand hat einen Schneemann davor gebaut.

Der Schneemann schmilzt. Rosas Freunde fangen an, über die Universität zu reden; #TeamEclairs räumt Klars Haus aus; Beltran markiert Häuser für den Abriss, während sich die wütenden Facebook-Nachrichten in seinem Posteingang stapeln; und Klimatologen verkünden, dass dieser Januar der wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen war. Nur für Rosa steht die Zeit still, jetzt und für immer.

Sirin Kale ist Feuilletonistin beim Guardian.

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Geschrieben von

Sirin Kale | The Guardian

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