Frankfurter Freiheit

#TexasText/Jamal Tuschick „Es gibt eine Art von Ehrgeiz, die zu den Pflichten eines jeden … gehört; und das ist der Ehrgeiz, es richtig zu machen.“ Christoph Martin Wieland

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Sehen Sie ferner https://jamaltuschick.de/index.php?article_id=4279 und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier und hier.

„Hätte ich aus meinen Schwächen nicht Romane machen können, hätte ich sie ein Leben lang ausbaden müssen.“ Rumourya Shukowa

*

„Es gibt eine Art von Ehrgeiz, die zu den Pflichten eines jeden … gehört; und das ist der Ehrgeiz, es richtig zu machen.“ Christoph Martin Wieland an Herzogin Anna Amalia am 19. Juli 1772

*

„Vorgestern habe ich Wieland besucht, der in seinem sehr artigen … Hause in der traurigsten Gegend von der Welt lebt.“ Goethe an Schiller am 21. Juni 1797

*

Hanif Kureishi zitiert André Gide und Pablo Picasso, um seiner Bewunderung für die Beatles einen Rahmen zu setzen. Die Beatles sind nicht bloß ins kulturelle Weltgedächtnis eingegangen, sondern, so wie Goethe und Shakespeare, zum Verbindungsstück zwischen Vergangenheit und Zukunft geworden, zu einer Matrix und eben auch zu einem Darm für den Brei aus dem Fleischwolf der Zeit. Sie schwammen nicht auf einer Welle. Sie waren die Welle ihrer Ära. Wenn Paul McCartney die Rolling Stones eine Blues-Covercombo nennt, verweist er auf eine (von ihm snobistisch angenommene) Differenz auf der Ebene der Kulturträgerschaft.

Beide Bands kreierten epochale Erkennungsmelodien. Um kurz auf Kureishi zurückzukommen. Für ihn hypostasieren die Beatles den adoleszenten Overdrive von „Magie, Sternenstaub und Leichtigkeit“ zumindest vorübergehend bis in alle Ewigkeit.

Auch Pocahontas und Priscilla Braemar gefallen sich in ihrer verspäteten Beatlemania. Sie stammen aus Tallahassee. Die 1824 in den floridianischen Panhandle zwischen Saint Augustine und Pensacola gesetzte Kapitale floriert zuerst als Hochburg einer Gesellschaft, die auf der Haltung von Sklav:innen* basierte. Ein koloniales und ein revanchistisches Erbe prägt die Stadt. Nach dem Sezessionskrieg kassieren Dandys aus dem siegreichen Norden die Latifundien entthronter Baumwollbaronien. Pocahontas und Priscilla mögen auf Ahnungslose wie Southern Belles mit Stammbäumen bis in die südliche Steinzeit wirken, die Wahrheit ist, die Schwestern waren Töchter von Leuten aus Newport, Rhode Island. In der Geburtsstadt ihrer Eltern finden sie noch genug Verkehrsteilnehmer:innen*, die sich an den Braemar-Klan erinnern. Die 1639 gegründete Kleinstadt zwischen Boston und New York präsentiert sich als neuenglisches Schmuckstück mit einer Vergangenheit als Umschlagplatz. Hier etablierte sich die erste jüdische Gemeinde in Nordamerika mit einem überregionalen Kraftfeld. Ihre Poleposition als atlantische Zentrale verlor Newport im Unabhängigkeitskrieg. Die Briten schlugen die Stadt aufs Haupt und machten sie klein. So wurde sie eine Postkartenschönheit und Sommerfrische für die Vanderbilts. Heute erscheint Newport stellenweise wie ein Museum des Vergoldeten Zeitalters, in dem der industrialisierte Norden die Ernte des Sezessionskriegssieges einfuhr und sagenhaft Vermögende vor Ort Dependancen der Differenz wie Strandburgen in den Sand setzten. Das brachte Newport den Ruf ein, „America‘s First Resort“ zu sein. Die im Château-Stil des 18. Jahrhunderts erbauten Landsitze laden zu Astor-aristokratischen Nostalgieräuschen an einem Ästuar (der Narragansett Bucht) ein.

Der neuenglische Dekor entzückt die Southern Sisters mit dem Air ewiger Elevinnen. Einmal werden auch sie über ihre Verhältnisse erwartungsfroh strahlen, doch noch küsst sie das Glück der Jugend bei jeder Gelegenheit. Priscilla begegnet einem Mann aus Kassel, verliebt sich in ihn und folgt ihm in die nordhessische Metropole. Da steigt sie bei den Jungsozialist:innen* ein. Bald darauf trägt sich folgende Geschichte zu.

Als die Mudschaheddin noch die Guten waren

Die erste Tagungskatastrophe begann mit einem Blechschaden; verursacht von einem Fahrer ohne Führerschein. Der widerrechtlich geführte VW-Variant gehörte dem Freund einer Tagungsteilnehmerin, die politisch nicht gebunden war. Nennt sie Silvia. Silvia hatte Jürgen ans Steuer gelassen. Sie war in Jürgen verliebt, aber mit Variant zusammen. Variant studierte Maschinenbau, verbrachte seine Freizeit in Kneipen und gehörte zu einer Horde Anti-Intellektueller, die mit ihrer Grobschlächtigkeit prahlte. Das waren aus westfälischen und niedersächsischen Kleinstädten Zugezogene, ich denke gerade an Paderborn und Höxter. Sie kultivierten abseitige Vorlieben für lokale Bands, Geschichten in einfacher Sprache und Kreisligaereignisse. Einer besaß einen Schrebergarten, das war ein Abweichungsgipfel. Manche übten handwerkliche Berufe aus, unverbunden mit den Abitur-Gärtner:innen* und -Schreiner:innen*, die das Programm der Grünen vorwegnehmend auf der Verzichtschiene unterwegs waren.

Kein Variant übte freiwillig Verzicht. Die meisten waren mit Anfang Zwanzig aufgeschwemmt, konditionsschwach und trotzdem von sich so eingenommen wie die Spitzenkräfte der Subkulturen.

Zwischen Variant und Jürgen klaffte es gewaltig. Wie kam dieses Dreieck zustande? Wieso war Silvia mit Variant zusammen? Variant hatte Silvia das Auto, Silvia Jürgen das Steuer überlassen. Jürgen hatte den Volvo von Freimuts Vater auf dem Parkplatz der Tagungsstätte touchiert. Ein emotionaler Blowout trieb die Mannschaft und ihre Empfindungen ins Freie. Die vierzig Tagungsteilnehmer:innen* schlugen sich wie ein Mann auf Jürgens Seite. Niemand warf ihm Leichtsinn vor. Keiner ließ sich über seine Fahrtüchtigkeit aus. Man verlangte von Freimut, bei der Schadensmeldung Silvia als Fahrerin anzugeben. Das Politische war privat, und Jürgen war einer von uns.

Wir bemerkten den Wanderer erst, als er sagte: „Ich habe alles mitangesehen.“

Heimlicher Käse

Unter der Woche reichte die Katzenwäsche. Wasser war mit Vorsicht zu genießen. Wasser tat der Haut nicht gut. Selbstgemachte Marmelade hatte einem besser zu schmecken als gekaufte. Die eingelagerten Äpfel und Kartoffeln schmeckten vor ihrer Neige im Frühjahr nach bitterer Not und ließen sich nur mit schwersten Ermahnungen und Hinweisen auf den Kohldampf der Kriegskinder herunterwürgen.

Blumenkohl in Fett geschwenkt. Zu den Schlössern der Armut meiner Kindheit zählten die Vorfreuden auf den Urlaub. Sobald die Reise losging, schwand die Freude. Alles wurde rationiert und portioniert. Schokolade musste man sich auf der Zunge zergehen lassen. Sie schmeckte nach mehr. Phonetischen Koinzidenzen mehr - Meer, Beeren - Bären beglückten meinen Vater.

Wir hatten alles dabei. Auch einen Campingkocher. Deshalb gab es Blumenkohl fast roh statt Pizza. Es gab ihn nicht ohne den Zusatz gesund.

Im Auto gab es schon mal gar nichts.

Wir waren verwöhnt. So verwöhnt, dass ich mir von selbstverdientem Geld einen Lauterbacher Strolch Camembert kaufte, nur um einmal über den bloßen Hunger hinaus - das ist nur noch Appetit - Käse zu essen. Die heimliche Zufuhr war ein Vertrauensbruch.

Dann kam die Freiheit der Jugend. Plötzlich war ich vorn mit dabei, wenn auch nur in Kassel, wo sich die Vergangenheit länger hielt als anderswo. Kassel war die letzte Stadt vor der Grenze. Unsere Verwandten in Eisenach lebten in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Verwandten der anderen lebten in der ‚Ostzone‘.

Unser Chef-Pfadfinder, Kunstlehrer und Juso-Vorsitzender Holger Kühne sagte manchmal ‚Ostzone‘. Manchmal fand er Worte der Anerkennung für den realsozialistischen Staat. Es kam darauf an, ob er als Pfadfinder:innen*- oder als Jungsozialist:innen*führer zu uns sprach. Für mich war die Differenz lange undurchschaubar, obwohl mir bizarre Meinungsmischungen vertraut waren. Mein Großvater nahm in seinem persönlichen Programm die Grünen vorweg, war aber auch Monarchist.

„Das Dichten darf nicht aufhören“.

Mit diesem Appell von Peter Suhrkamp aus der Frühzeit der alten Bundesrepublik begann ein großer Gesang des SPD-Apachen Holger auf dem „Erlebnisberg“ Hoherodskopf im Vogelsberg. Gezogen von der traurigsten Mähre der Gegend, rumpelten wir in einem lächerlichen Prärieschonernachbau über den Vulkan. Auch der Kutscher sah nach Mistwetter und Alkoholnebel aus, aber auch nach einem verschwiegenen Glück im sozialen Unterholz. Madeleine studierte Soziologie in Frankfurt am Main, Adorno und Horkheimer zu Ehren. Sie war fünf Jahre älter als ich und prunkte mit ihrem Seminar- und Wohngemeinschaftsvokabular. Wir waren in Kassel zu ahnungslosen Adept:innen* der Frankfurter Schule geworden; nicht zuletzt deshalb, weil unsere sozialdemokratischen Eltern über Brecht und Biermann nicht hinauskamen. So konnte man die intelligente Reaktion nicht kontern. Mein humanistisch gebildeter Deutschlehrer vertrat den Standpunkt, dass eine Hochkultur ohne Sklav:innen* nicht zu haben sei. Er führte Mesopotamien, Griechenland und Rom an, um uns Beispiele zu geben. Er sprach von Prädestination und Destination. Der Radikalenerlass fand auf ihn trotzdem keine Anwendung.

Holger zog ein Bein nach, er sah aus wie ein ramponierter Steve McQueen. Er war in Kämpfe mit Toten, Verletzten und Zerstörten auf zwei Kontinenten verstrickt gewesen. Der politische Anstrich hatte eine private Angelegenheit getüncht. Das Private war in der Gegner:innen*strategie untergegangen und nie mehr aufgetaucht.

In Amerika kostete der Kampf einem Mann das Leben, der für das Bureau of Alcohol, Tobacco and Firearms in Baton Rouge gearbeitet hatte.

Was hatte Holger damit zu tun? Dazu morgen mehr.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Jamal Tuschick

Interessiert an Literatur, Theater und Kino

Jamal Tuschick

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden