Kriegsverbrechen an Kindern

Krieg gegen die Ukraine XIV Immer lauter werden die Vorwürfe an Russland, mit der Entführung und der Adoption von Kindern einen Völkermord gegen die Ukraine durchzuführen

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Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Recht des Kindes zu achten, seine Identität, einschließlich seiner Staatsangehörigkeit, seines Namens und seiner gesetzlich anerkannten Familienbeziehungen, ohne rechtswidrige Eingriffe zu behalten.
UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 8.1

Kurz nach Beginn des Russisch-Ukrainischen Krieges wurden die ersten Vorwürfe gegen Russland erhoben, ukrainische Kinder zu entführen. Mitte Februar veröffentlichte der russische TV-Kanal Rossija 24 eine Unterhaltung zwischen Russlands Beauftragte des Präsidenten für Kinderrechte Maria Lvova-Belova und dem Präsidenten Vladimir Putin über das von ihr adoptierte Kind aus Mariupol. Lvova-Belova sprach öffentlich wiederholt von den "Wohltaten der Umerziehung" und erzählte, "die Kinder aus der zerbombten Stadt hätten zuerst die ukrainischen Nationalhymne gesungen, als man sie aus den Kellern geholt habe; mittlerweile habe sich ihre Haltung aber in 'Liebe zu Russland' verwandelt".

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen definiert im Übereinkommen vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (PDF) im Artikel 2e die "gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe" eindeutig als Völkermord. Dieser Artikel basiert auf die Erfahrungen des 2. Weltkrieges, als der staatlich geförderte Verein der SS Lebensborn polnische Kinder mit "germanischem Aussehen" entführt hat und diese durch parteitreue deutsche Familien adoptieren ließ. Weniger bekannt ist die Umerziehung polnischer Kinder durch die UdSSR. Sowohl Deutschland als auch die UdSSR formulierten 1939 das Ziel, den Staat und die Kultur Polens zu vernichten. Molotovs Rede vor dem Obersten Sowjet nach der polnischen Teilung zwischen Deutschland und der UdSSR besagt deutlich, beide Parteien des Hitler-Stalin-Paktes planten einen Völkermord.

Die herrschenden Kreise Polens brüsteten sich nicht wenig mit der ‚Stabilität‘ ihres Staates und der ‚Macht‘ ihrer Armee. Es genügte jedoch ein kurzer Schlag gegen Polen, geführt zunächst von der deutschen Armee und danach von der Roten Armee, damit von diesem missgestalteten Geschöpf des Versailler Vertrages, das von der Unterjochung der nichtpolnischen Nationalitäten lebte, nichts übrig blieb.
Vjacheslav Molotov, 31. Oktober 1939 vor dem Obersten Sowjet, PDF, S.43

Wer russische Medien aufmerksam gelesen hat, konnte kaum Zweifel haben, Putin verfolgte eine ähnliche Strategie. Vernichtung der ukrainischen Kultur und Eigenstaatlichkeit. Zudem war die Umerziehung der Ukrainer geplant, wie in einem RIA-Novosti-Artikel vom 3. April 2022 erläutert wurde. Timofey Sergeytsev stellte die Frage "Was soll Russland mit der Ukraine machen" und beantwortete die Frage sinngemäß: Wenn die Ukrainer einen eigenen Staat besitzen, werden sie automatisch zu Faschisten. Die Konsequenz ist klar. Er schreibt, eine Umerziehung bei der Elite sei nicht möglich und eine Liquidation sei notwendig. Der Tod des 35jährigen Majors Oleg Mudrak nach einigen Monaten russischer Gefangenschaft zeigt deutlich, es sind keine leeren Worte.

Seit dem Sommer taucht immer wieder der Vorwurf der Kindesentführung durch Russland auf. Der Journalist Arndt Ginzel recherchierte für Frontal24 in Kherson, um den Vorwürfen nachzugehen. Die 45minütige Dokumentation Die verschwundenen Kinder von Cherson - Auf der Spur eines Kriegsverbrechens machte Schlagzeilen, weil die Verlinkung dieser Doku zu einer zeitweiligen Sperrung des Twitter-Accounts von Frontal24 führte. Das Twitter-Profil von Arndt Ginzel ist aufgrund des Vorwurfes der Verbreitung von "potenziell sensiblen Inhalten" noch immer eingeschränkt.

Die Vorwürfe sind nicht neu. Die FAZ berichtete im Januar über das Thema, worüber in der Ukraine seit dem Frühling vergangenen Jahres beinahe täglich berichtet wird. Im Juni 2022 veröffentlichte die UN nach Untersuchungen in der Ukraine einen Bericht.

Während der Besetzung Khersons wurden ukrainische Kinder nach Russland und in die besetzten Gebiete deportiert, In einem langen Artikel Die leeren Waisenhäuser von Kherson wird aufgezeigt, wie die russische Besatzungsmacht vorging und wie sich die örtliche Bevölkerung zu wehren versucht hat. Es gibt Aussagen zum Beispiel von der Krankenschwester aus einem Khersoner Kinderkrankenhaus Tetyana Pavelko, wie es gelang, durch Adoption, Fälschung von Gesundheitskarten oder Simulation von Krankheiten durch den Anschluß an Beatmungsgeräten wenigstens ein Teil der Kinder zu retten.

Bereits im Juni 2022 verkündete der Erste Stellvertretende Vorsitzende des Regionalrats von Cherson Juri Sobolewskyj, alle Kinder, die nach dem 24. Februar in der Region Cherson geboren werden, erhalten automatisch die russische Staatsbürgerschaft.

Russland hat im Mai seine Gesetze geändert, um diesen Kindern die russische Staatsbürgerschaft zu ermöglichen. Und der Grund, warum sie das wollten, war, dass diese Kinder dann nicht nur unter Vormundschaft oder Pflegevereinbarungen gestellt, sondern von russischen Familien vollständig adoptiert und in russische Familien aufgenommen werden konnten. Und das ist in Hunderten von Fällen passiert.
Bill Van Esveld, stellvertretender Direktor für Kinderrechte bei Human Rights Watch

Bis Mai 2022 war die Adoption von Ausländern in Russland gesetzlich verboten. Die Zwangsadoption und automatische Erteilung der russischen Staatsbürgerschaft verfolgt einen einzigen Zweck: Die Russifzierung der Ukraine. Daran ließ die Kinderrechtsbeauftragte des Präsidenten der Russischen Föderation Maria Lvova-Belova nie einen Zweifel und ließ sich bei einer Einbürgerungszeremonie am 14. Juli 2022 vor laufender Kamera filmen. Lvova-Belova hat selbst einen 15jährigen ukrainischen Jungen adoptiert, der laut ihren Angaben die ukrainische Hymne gesungen habe, als er aufgegriffen wurde. Sie betont, es sei zwar schwierig mit ihrem neuen Adoptivsohn, aber man habe sich zu lieben gelernt.

Wenn wir in dieser Angelegenheit helfen können [Adoption ukrainischer Kinder], werden wir es auf jeden Fall tun, egal wo sie sich befinden - auf dem Territorium der Ukraine oder auf dem Territorium anderer Länder ist es wichtig, dass die Blutsverwandtschaft, wenn sie aus irgendeinem Grund getrennt wurden, wir uns für die Wiedervereinigung einsetzen.
Maria Lvova-Belova, 16. Februar 2023

Einige Kinder aus der Ukraine wurden als "schwer erziehbare" Kinder eingestuft und nach Tschetschenien verbracht. Lvova-Belova besprach auch diesen Punkt mit Putin, der konstatierte: "Es ist eine heilige Sache". Kadyrov erwähnte dieses Programm bereits im vergangenen Jahr.

Im Rahmen der Durchführung des föderalen Programms „Teens of Russia“ kamen 200 schwierige Teenager aus verschiedenen Regionen Russlands, darunter der Volksrepublik Lugansk und Donezk, die bei den zuständigen Behörden registriert sind, in die Republik Tschetschenien. Während ihres Aufenthaltes in der Region wird präventive Arbeit mit Kindern zum Zwecke der militärisch-patriotischen Erziehung durchgeführt.
Ramsan Kadyrov, 16. November 2022

Der Vorsitzende des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) Filippo Grandi stellte im Januar 2023 eindeutig das unrechtmäßige Handeln Russlands fest, welches nach Artikel 8.1 der UN-Kinderrechtskonvention als Völkermord definiert ist.

Ihnen die [russische] Staatsbürgerschaft zu geben oder sie adoptieren zu lassen, verstößt gegen die Grundprinzipien des Kinderschutzes in Kriegssituationen. Das passiert in Russland und darf nicht passieren.
Filippo Grandi, 27. Januar 2023

Es gibt viele Beispiele von Kriegsverbrechen gegen Kindern. Am 25. Februar 2022 wurde der Kindergarten in Achtyrka (100km westlich von Kharkov) mit Streumunition getroffen und es gab mehrere Tote. Auf der ukrainischen Seite Children Of War können Fälle gemeldet werden und einige werden auch vorgestellt.

Für Deutsche mögen viele TV-Ausschnitte befremdlich klingen oder gar unglaubwürdig erscheinen. wenn ein russischer Priester auf einem religiösen TV-Kanal sagt: "Wenn Frauen so viele Kinder hätten, wie Gott es für sie vorgesehen hat, wären sie nicht so traurig, wenn ihre Söhne mobilisiert werden". Der verstorbene serbische Patriarch Pavle äußerte sich in der Vergangenheit während der Jugoslawien-Kriege ähnlich. Nur einmal hatte in Russland ein Statement Konsequenzen. Im Oktober 2022 schlug der Rundfunkdirektor Anton Krasovsky auf dem russischen TV-Kanal RT vor, ukrainische Kinder zu ertränken oder zu verbrennen. Krasovsky wurde nach Protesten der Zuschauer entlassen.

Neu ist der Versuch nicht, Kinder umzuerziehen und neu zu formen. Den gab es nicht nur im 3. Reich. Die Umerziehung in der DDR verfolgte zwar nicht das Ziel, Kinder aus fremden Völkern zu sozialistischen Deutschen umzuerziehen, aber man verfolgte eine in der UdSSR gängige Praxis. Die Kinder und Jugend galt immer als gefährdet und verdächtig. Über die Formung der Kinder schrieb Kathleen Beger eine lesenswerte Untersuchung: Erziehung und "Unerziehung" in der Sowjetunion. Die Polizei hatte die Anweisung, streunende Kinder aufzugreifen und zur Umerziehung einzuweisen. Kinder von verfolgten Eltern galten als Feinde des Staates, Kinder nicht russischer verfolgter Eltern hatten oftmals zusätzliche Repressalien zu erleiden. Galt Widerspruch im Baltikum oder in der Ukraine oftmals als faschistische Gesinnung, die umerzogen werden mußte. In dieser Hinsicht befindet sich Putins Politik in einer langen Traditionslinie.

Artikel über den Krieg Russlands gegen die Ukraine

Ein Jahr Russisch-Ukrainischer Krieg (17. Februar 2022)
Die "Desatanisierung" der Ukraine wird immer dringlicher(10. Dezember 2022)
Interview mit einem Soldaten vor Kharkiv(24. Juli 2022)
Interview mit einem Soldaten an der Front im Donbas(10. Juli 2022)
Der sakrale Kult in Russland um den 9. Mai(8. Mai 2022)
Ein Propagandist als Verhandlungsführer für Friedensgespräche(23. März 2022)
Schicksale der Menschen in einem Angriffskrieg(27. Februar 2022)
Give us the tools and we will finish the job(27. Februar 2022)
Zerplatzende Illusionen über Putins Russland in Deutschland (25. Februar 2022)
Das Gesetz des Stärkeren ersetzt das Recht auf Selbstbestimmung(24. Februar 2022)
Ein Angriffskrieg mit nationalistischen Motiven(24. Februar 2022)
Mercenaries (Ready For War)(21. Februar 2022)
Siebzehn Fragen vor dem Frühling (16. Februar 2022)

Bisherige Artikel über Russland und der Ukraine

Historische Einheit von Russen und Ukrainern?(6. September 2021)
Wollen die Russen Krieg?(12. April 2021)
Krieg der Spezialeinheit "Sie sind nicht da"(13. April 2020)
Folter in der Volksrepublik Donezk & Luhansk(16. März 2020)
Gefangenenaustausch Ukraine und Russland(31. Dezember 2019)

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