Neues Wehrdienstgesetz soll ukrainische Armee personell aufstocken

Mobilmachung Die Armee wird jetzt Bürger zwischen 25 und 60 rekrutieren. Wer sich verweigert, dem kann der Führerschein entzogen oder ein neuer Reisepass verwehrt werden. Konsequenz: Viele Ukrainer, die in den EU-Staaten leben, werden dort bleiben
Ausgabe 16/2024
Die Ukraine rekrutiert ab sofort Männer zwischen 25 und 60 Jahren für die Armee – wer sich weigert, muss mit Konsequenzen rechnen
Die Ukraine rekrutiert ab sofort Männer zwischen 25 und 60 Jahren für die Armee – wer sich weigert, muss mit Konsequenzen rechnen

Foto: Roman Pilipey/AFP/Getty Images

Das Gesetz über die Mobilmachung für die Streitkräfte ging am 11. April so durch das Kiewer Parlament, die Werchowna Rada, wie es sich Wolodymyr Selenskyj gewünscht hatte. 283 der 351 Abgeordneten beschlossen eine gesetzliche Regelung, die das Mindestalter für Rekruten von 27 auf 25 Jahre senkt. Die Armee kann fortan Bürger zwischen 25 und 60 an die Front schicken. Wer sich sträubt, dem kann der Führerschein entzogen oder ein neuer Reisepass verweigert werden. Das bedeutet in der Praxis, dass viele junge Ukrainer, die momentan in den EU-Staaten leben, dort bleiben werden.

Zugleich sieht das Dekret keine Demobilisierung derjenigen vor, die zum Teil bereits seit Februar 2022 an der Front aushalten. Im Entwurf des Gesetzes war noch vorgesehen, dass Soldaten nach 36 Monaten ins zivile Leben zurückkehren können, bei der Abstimmung jedoch stand dies nicht mehr zur Debatte. Das Oberkommando hatte erfolgreich interveniert, den Passus zu streichen. Dessen Einfluss im Rada-Komitee für nationale Sicherheit, Verteidigung und Aufklärung ist beträchtlich. Dieser Parlamentsausschuss kam für die finale Fassung des Gesetzes auf.

Hohe Militärs im ukrainischen Parlament

Als abgestimmt wurde, waren hohe Militärs in einer für Demokratien ungewöhnlichen Dichte präsent. Verteidigungsminister Rustem Umerow, Armeechef Alexander Syrski, Generalstabschef Serhij Schaptala und mehr als ein Dutzend Frontkommandeure verschafften der Stimmabgabe atmosphärisches Kolorit. Einer der Generäle ergriff vor den Parlamentariern das Wort: „Nehmt dieses Gesetz an, und die Streitkräfte werden euch nicht enttäuschen.“

Die Opposition der Partei Europäische Solidarität von Ex-Präsident Petro Poroschenko bemängelte nur Nuancen, sodass von einer breiten und freien Debatte keine Rede sein konnte. Der politische Pluralismus in der Ukraine wirkt gestutzt. Pazifisten, Sozialisten oder Kommunisten gibt es in der Werchowna Rada längst nicht mehr. Auf Betreiben des Geheimdienstes SBU hat die Regierung Selenskyj im Oktober 2022 zwölf Parteien verboten. Zu den in die Illegalität gedrängten Kräften gehören die Sozialistische Partei, die vorrangig im Osten verankerte Oppositionelle Plattform – Für das Leben, die Progressive Sozialistische Partei, die KP und andere Gruppierungen. Sie hatten stets für eine Suche nach Alternativen zum Krieg plädiert.

Den Krieg einfrieren

Nationalistische und rechtsextreme Ausläufer des Parteienspektrums hingegen bleiben unbehelligt. Sie dürfen weiter für den Endsieg trommeln, während das gesamte linke Lager aus dem politischen Leben des Landes ausgeschieden ist, weil es ausgeschaltet wurde. Dies beeinflusste die Debatte über das Mobilisierungsgesetz. Seit den Parteienverboten sind Kriegsgegner dem Verdacht ausgesetzt, Agenten der „Moskauer“ – der „Moskalej“, wie es im Ukrainischen heißt – zu sein. Wer derart stigmatisiert und dann noch jung ist, muss auf polizeiliche Rollkommandos gefasst sein, die auf der Straße oder in Supermärkten zugreifen und die Verhafteten der Armee übergeben.

Die Ursache für derartige Aktionen, die in sozialen Netzen unversehens viral gehen, liegt in einem massiven Stimmungswandel. Nach dem Scheitern einer verlustreichen ukrainischen Gegenoffensive im Vorjahr schwindet die Zuversicht. Auch die nun anlaufende Mobilisierung verspricht keinen Durchbruch zum Sieg. Der romantische Patriotismus vieler junger Vaterlandsverteidiger des Jahres 2022 ist bitterer Ernüchterung gewichen. Die gelichteten Reihen der Armee und die Erinnerung an tote Soldaten haben vorerst die Hoffnung untergraben, die eigene Armee könnte die russischen Interventen zurückdrängen. Heute sehnen sich viele Ukrainer nur noch nach einem Ende von Artilleriegefechten und Grabenkämpfen. Sie würden den Konflikt am liebsten einfrieren.

Dass es der ukrainischen Armee nicht nur an Granaten und Flugabwehrraketen, sondern ebenso an Personal mangelt, zeigten Militärs in der Debatte um das Wehrpflichtgesetz. Dmitri Lasutkin, Sprecher des Verteidigungsministeriums, verkündete, selbst schon lange dienende Soldaten dürften nicht demobilisiert werden. Wer das beabsichtige, schwäche „die Kräfte der Verteidigung“. Das fand eine Gruppe ukrainischer Frauen von Frontsoldaten nicht überzeugend, die sich zur Abstimmung vor dem Rada-Gebäude versammelt hatte. Sie verlangten auf Plakaten: „Demobilisieren sofort!“ In sozialen Kanälen findet dies ein vielstimmiges Echo.

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