Netanjahus Kalkül geht nicht auf: Zeit für einen Plan von 2002

Meinung Israels Regierungschef lässt die Armee vorerst aus dem Süden Gazas abziehen und hält an einer Offensive auf Rafah fest. Doch Benjamin Netanjahus zwei Kriegsziele scheinen kaum mehr miteinander vereinbar
Ausgabe 15/2024
Ein israelischer Panzer an der Grenze zum südlichen Gazastreifen
Ein israelischer Panzer an der Grenze zum südlichen Gazastreifen

Foto: Ronaldo Schemidt/AFP/Getty Images

Noch für den Ramadan hatte die Regierung Israels eine odenoffensive auf Rafah angekündigt. Doch kurz vor Abschluss des Fastenmonats, dem Aid el Fitr – hierzulande Zuckerfest genannt –, zog sich das israelische Militär bis auf eine Brigade vorerst aus dem Süden von Gaza zurück. In Khan Yunis, wo sich ein Operationszentrum der Hamas befand, meldeten Israels Streitkräfte, Tausende Kämpfer getötet und 30 Kilometer an Tunnelanlagen zerstört zu haben. Entscheidend für den Rückzug jetzt war wohl erneuter Druck aus den USA – zuletzt, nachdem sieben Mitarbeiter der Hilfsorganisation World Central Kitchen, die an Gazas hungernde Bevölkerung Mahlzeiten verteilte, durch Beschuss der israelischen Armee getötet worden waren – eindeutig gezielt, so der entsetzte Chef der NGO.

Der Vorschlag von CIA-Chef William Burns

Zudem musste Benjamin Netanjahus Kabinett eine Delegation zu indirekten Verhandlungen mit der Hamas in Katar schicken. Es ging dort nicht mehr um die öffentlich immer noch vertretenen Maximalziele beider Seiten, sondern um einen nun bekannten Vorschlag des CIA-Chefs William Burns: 40 der noch etwa 130 in Gaza festgehaltenen Geiseln solle die Hamas freigeben und Israel 900 palästinensische Gefangene entlassen, darunter 100, die als Terroristen wegen Mordes verurteilt worden waren. Um die humanitäre Katastrophe im Süden zu mildern, sollten zudem 150.000 palästinensische Flüchtlinge in Gazas Norden zurückkehren dürfen.

Interessant ist an diesem Vorschlag: Er scheint die Asymmetrie des Konflikts in seinen historischen Dimensionen in Rechnung zu stellen – und enthält einen Wink an die israelische Bevölkerung. Viele Israelis haben zuletzt demonstriert, dass sie im Regierungshandeln die in der jüdischen Tradition fest verankerte Maxime vermissen, alles Menschenmögliche für die Befreiung von Juden in Feindeshand zu unternehmen. Weil das auf militärischem Wege bislang nicht gelungen ist, bleiben nur Verhandlungen, wie im Fall Gilad Schalits, den die Hamas 2006 entführte. 2011 wurden für die Freilassung des israelischen Oberfeldwebels 1.027 palästinensische Gefangene aus der Haft entlassen.

Über den Anteil an Soldaten beziehungsweise Kämpfern in auszutauschenden Gefangenenkontingenten wurden sich die Parteien in Katar nicht einig. Doch die Hoffnung auf ein diesbezüglich leicht verändertes Abkommen ist berechtigt. Schwerer ist für Israels Regierung jene Forderung nach Rückkehr von 150.000 Palästinensern in den Norden zu akzeptieren – da davon auszugehen ist, dass sich Hamas-Kombattanten unter die Heimkehrenden mischen. Dadurch könnte eine Bodenoffensive auf Rafah, deren Termin laut Benjamin Netanjahu feststehe, teilweise ins Leere laufen. An der Offensive muss er festhalten, wenn er die Immunität als Regierungschef nicht verlieren will. Denn die radikalen Mitglieder seines Kabinetts, besonders Innenminister Itamar Ben-Gvir, drohen mit Koalitionsbruch, sollte anders entschieden werden. Die zwei Kriegsziele – vollkommene Zerschlagung der Hamas, Rückholung der Geiseln – scheinen nicht mehr miteinander vereinbar.

Netanjahu hatte gehofft, dass die mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko geschlossenen Abraham-Verträge bald zur Anerkennung Israels durch die arabische Welt führen würden – auch unter Ausschluss der palästinensischen Frage. Es ist an der Zeit, die Öffentlichkeit an den Beschluss der Arabischen Liga von 2002 zu erinnern: Israel im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung anzuerkennen – dem hatte sich auch Iran angeschlossen.

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