Man läuft die Fußgängerzone entlang und trifft auf einen Obdachlosen, der um ein paar Cents bittet. „Soll ich ihm wirklich Geld geben?“, fragen sich dann viele. Was macht er damit? Kauft er sich Alkohol? Wäre es daher nicht sinnvoller, ihm Essen zu kaufen? Hinter diesen scheinbar fürsorglichen Gedanken steckt die paternalistische Haltung, besser Bescheid zu wissen, was der Mensch jetzt bräuchte. Aber nicht nur das.
„Würdige“ und „unwürdige“ Arme
In dieser Alltagsszene wird die uralte Unterscheidung zwischen den „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen aufgeführt. Wer wirklich gewillt ist, seine offensichtlich mangelhafte Situation zu verbessern, gibt das Geld nicht für Alkohol aus, der allzu gerne in einem wenig komplexen Umkehrungsprozess von Ursache und Wirkung als eigentlicher Grund für Armut und Obdachlosigkeit erachtet wird. Unwürdig erscheint der, der sich seiner Situation überlässt und sich der stumpfen und geistlosen Bedürfnisbefriedigung widmet. Der würdige Arme hingegen akzeptiert die Kontrolle, die über ihn ausgeübt wird. Wer nichts hat und nach dem Wenigen zum Überleben fragen muss, sollte sich gefälligst nicht einbilden, auch nur über einen Hauch von Verfügungsgewalt zu verfügen – und sei es, sich zwischen Toastbrot und einer mit Flüssigkeit gefüllten Dose zu entscheiden. Es geht darum, die Sitzordnung der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Der devote Blick von unten, ein gekrümmter Rücken und die geöffnete Hand markieren die ideale Körperhaltung des würdigen Armen, der weiß, dass er ganz unten steht.
Die Implikationen dieser Alltagsszene lassen sich zum Teil übertragen auf die Debatte um Geflüchtete, denen in Zukunft weniger Bargeld, dafür eine Bezahlkarte in die Hand gedrückt werden soll, die sie dann im Supermarkt vorlegen müssen. Zwar soll diese Praxis, wie auch offen formuliert, zuvorderst der Abschreckung und der Erziehung dienen, aber auch hier geht es um Macht, Kontrolle und Zuweisung, um Bevormundung und Entmündigung.
Geflüchtete scheinen offenbar nicht in der Lage zu sein, angemessene finanzielle Entscheidungen zu treffen, sagen die Bevormunder. Kein Geld an Verwandte, keine Anreize, keine Freiheit. Stattdessen Abhängigkeit und Ohnmacht. Die Hierarchie zwischen den Ankommenden und Ansässigen, zwischen den Nehmenden und den Gebenden, ist so grundlegend, dass sie sich nicht einfach durch empathische Gesten, Bargeld oder ein höfliches Lächeln seitens der Gebenden auflösen lässt.
Doch damit die Hierarchie bestmöglich abgesichert wird, muss sie täglich perpetuiert werden – auf dem Amt, der Straße, im Supermarkt. Wollen wir diesen Albtraum nicht langsam beenden?
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